Der obskure Streit um den Namen der Republik Mazedonien verdeckt die Tatsache, dass der Auslöser der nationalistischen Welle im Vormarsch der NATO auf dem Balkan liegt. Von Heinz Willemsen
Am 21. Januar demonstrierten 90.000 Menschen in der Hafenstadt Thessaloniki gegen das Recht des nördlichen Nachbarn Griechenlands, einen Staatsnamen zu tragen, in dem in irgendeiner Form das Wort »Mazedonien« oder »mazedonisch« enthalten ist. Zwei Wochen später gingen in Athen 140.000 Menschen mit der gleichen Forderung auf die Straße. Aktuell verhandelt der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras (Syriza) mit dem sozialdemokratischen Regierungschef von Mazedonien, Zoran Zaev, über die Frage. Seitdem die »Sozialistische Republik Mazedonien«, die südlichste Teilrepublik des ehemaligen Jugoslawien, 1992 als »Republik Mazedonien« unabhängig wurde, drängt Griechenland auf eine Änderung des Staatsnamens. Weil die nördlichen Provinzen Griechenlands auch Mazedonien heißen und wegen der antiken Geschichte der Region erhebt Griechenland einen Monopolanspruch auf den Namen. Tsipras und Zaev wollen den Streit dadurch beilegen, dass Griechenlands Nachbar einen zusammengesetzten Namen bekommen soll, wie etwa »Nord-Mazedonien«, »Vardar-Mazedonien«, »Neu-Mazedonien« oder »Mazedonien (Skopje)«. Die Demonstranten dagegen verlangen, dass der Name Mazedonien auch in solch einer kombinierten Form nicht vorkommen darf, weil Mazedonien griechisch und ausschließlich griechisch sei.
Militär, Klerus, Unternehmer und Faschisten
Organisiert wurden die beiden Demonstrationen von rechten und nationalistischen Kreisen, darunter der General Frangoulis Frangou, der extrem konservative orthodoxe Bischof von Thessaloniki Anthimos und der griechisch-russische Unternehmer Ivan Savvidis, bis 2011 für »Einiges Russland« in der russischen Duma und Eigentümer des Fußballclubs PAOK Thessaloniki. General Frangou ist ein Türkenhasser, Trump-Anhänger und im Jahr 2011 ging das Gerücht um, dass er einen Militärcoup plane, um das Land von den Anti-Memorandum-Anhängern zu »befreien«. Er ist bekannt für sein gutes Verhältnis zu Nikolaos Michaloliakos, dem Vorsitzenden der neofaschistischen Partei Chrysi Avgi, der »Goldenen Morgenröte«. 2015 gehörte er zu den maßgeblichen Organisatoren des Lagers, das sich für ein Ja im Referendum über das Memorandum der Troika ausgesprochen hatte. Der Unternehmer Savvidis wiederum hatte sich an der Privatisierung des Hafens von Thessaloniki bereichert. Bischof Anthimos hatte alle orthodoxen Bischöfe aus dem Norden Griechenlands zu der Demo in Thessaloniki mobilisiert. Dazu kamen noch einzelne Abgeordnete der konservativen Nea Demokratia und des rechten Regierungspartners von Syriza ANEL, aber auch Mitglieder der Panmazedonischen Assoziation, eines Clubs von Junta-Nostalgikern. Für die Nea Demokratia waren die Demonstrationen keine einfache Angelegenheit. Gerne würde sie die Mobilisierung gegen Syriza nutzen. Sie steht aber vor dem Problem, dass ihr ehemaliger Parteichef und Ministerpräsident Konstantinos Mitsotakis selbst den Kompromissvorschlag für die Namenslösung vorgebracht hatte, den Tsipras jetzt aufgreift. Auch Anhänger der faschistischen Goldenen Morgenröte nahmen an den Demonstrationen teil.
Auf der Demonstration in Athen sprach auch Mikis Theodorakis. Der Komponist der Filmmusik für »Alexis Sorbas« und den antifaschistischen Film »Z« von Costas Gavras ist eine Symbolfigur des Widerstandes gegen die griechische Junta-Diktatur von 1967-1974. Jahrelang stand er der kommunistischen KKE nahe, war sogar einmal deren Kandidat für das Bürgermeisteramt von Athen. Im Zweiten Weltkrieg hatte er sich der kommunistischen Widerstandsbewegung EAM angeschlossen. Allerdings hatte er schon 1989 als Parteiloser für die Nea Demokratia kandidiert und war eine Zeitlang für diese Partei Minister. Schon Anfang der 1990er Jahre hatte er in der Mazedonischen Frage eine scharfe nationalistische Haltung eingenommen. Von der politischen Linken hatte ansonsten nur Zoi Konstantopoulou zu der Demo in Athen aufgerufen. Konstantopoulou war bis 2015 Syriza-Mitglied und Präsidentin des griechischen Parlaments. Mit der »Volkseinheit« LAE hatte sie Syriza verlassen, aber kurz darauf ihre eigene Partei »Kurs der Freiheit« gegründet. Sie definiert sich mittlerweile als Anhängerin griechischer Souveränität und bezeichnet ihren politischen Standpunkt als jenseits von links und rechts.
Eine Gruppe von Faschisten hatte die Demonstration in Thessaloniki genutzt, um das von Anarchisten seit Jahren besetze soziale Zentrum Libertatia in Brand zu setzen. Auch aus der Kundgebung auf dem Athener Syntagma Platz heraus haben Faschisten versucht, das unabhängige Empros-Theater anzugreifen und niederzubrennen, allerdings ohne Erfolg. Doch während die griechische Polizei diesem Treiben weitgehend passiv zuschaute, griff dieselbe Polizei gleichzeitig das Büro von Antarsya, einem Bündnis der radikalen Linken, in Athen mit Tränengasgranaten an.
Die Massendemonstrationen stellen einen gefährlichen Versuch dar, die Unzufriedenheit mit der ökonomischen und sozialen Lage in rechtes und nationalistisches Fahrwasser zu lenken. Sie sind aber lange nicht so groß, wie die Demonstrationen und Kundgebungen des OXI-Lagers im Jahr 2015. Vor allem haben sie jedoch nur einen Bruchteil der Menschen auf die Straße gebracht, wie in der hysterisch nationalistisch aufgeladenen Zeit Anfang der 1990er Jahre.
1992-1995: Nationalismus und Blockade
Im Jahr 1992 waren in Thessaloniki eine Million Menschen unter der Parole »Mazedonien ist griechisch« auf die Straße gegangen. Zu der Demonstration aufgerufen hatten die Nea Demokratia des Ministerpräsidenten Konstantinos Mitsotakis, die sozialdemokratische PASOK und die wichtigste Vorläuferorganisation von Syriza, die aus der KKE (Inland) hervorgegangene Synaspismos. Griechenland forderte von Mazedonien seinen Namen zu ändern und einige Passagen aus der Verfassung zu nehmen, die von Griechenland als irredentistisch angesehen wurden. Außerdem sollte die 1992 eingeführte Flagge des jungen Staates geändert werden, die als Symbol den »Stern von Vergina« enthielt, einem in Nordgriechenland bei Ausgrabungen gefundenen Emblem, das dem antiken König Philipp dem Großen zugesprochen wird. Gegen diese Politik gab es außer von der radikalen Linken, auf parlamentarischer Ebene nur von der kommunistischen KKE Opposition. Das hatte auch historische Gründe: Die KKE hatte im griechischen Bürgerkrieg der slawisch-mazedonischen Minderheit im Nordwesten Griechenlands weitreichende Autonomierechte versprochen. Zwar hatten die griechischen Kommunisten im Kominform-Konflikt 1948 zwischen Jugoslawien und der UdSSR Partei für Stalin und gegen Tito ergriffen, im Bürgerkrieg waren es aber die Jugoslawen, die gegen den entschiedenen Widerstand Stalins aktiv die griechischen Kommunisten unterstützten. Die jugoslawische Volksrepublik Mazedonien war Rückzugs- und Nachschubraum für die griechische kommunistische Guerilla. Die gesamte griechische Presse hetzte in den 1990er Jahren gegen den damaligen Generalsekretär der KKE, Aleka Papariga, als »nationalen Verräter«.
Obwohl die Regierung in Skopje 1992 die von Griechenland gewünschten Verfassungsänderungen vornahm und die Flagge änderte, ließ der Druck aus Griechenland nicht nach. Innerhalb der Nea Demokratia versuchte der damalige Außenminister Antonis Samaras die nationalistische Welle für eigene politische Ambitionen zu nutzen und gründete eine rechtsnationalistische Abspaltung. Auch die 1993 als Siegerin aus den Wahlen hervorgegangene PASOK setzte voll auf die nationale Karte. Die Mazedonien-Frage spielte eine herausragende Rolle im Wahlkampf. Antonis Samaras kam mit seiner neuen rechtsnationalistischen Partei ins Parlament und Mitsotakis verlor die Wahl vor allem, weil er gegenüber der Regierung in Skopje Kompromissbereitschaft gezeigt hatte. Im Februar 1994 verkündete die PASOK-Regierung ein totales Wirtschaftsembargo gegenüber Mazedonien. Für die normale Bevölkerung Mazedoniens, das ohnehin neben dem Kosovo Jugoslawiens ärmste Republik gewesen war, waren die Folgen katastrophal. Ein Viertel des Außenhandels hatte die Republik bislang über die jugoslawische Freihandelszone im Hafen von Thessaloniki abgewickelt. 90 Prozent des Ölhandels lief über die griechische Hafenstadt. Die Wirtschaft Mazedoniens stand durch die tiefe Wirtschaftskrise in Jugoslawien schon Ende der 1980er Jahre vor dem Kollaps. Neben dem westlichen Boykott, gegen den nördlichen Nachbarn von Mazedonien, Serbien, würgte das griechische Embargo nun den Rest des mazedonischen Wirtschaftslebens ab. Für viele mazedonische Familien war der Winter 1994/95 ein Kältewinter ohne Heizung, mit Massenarbeitslosigkeit und nicht ausgezahlten Löhnen.
Erst mit dem griechisch-mazedonischen Interimsabkommen vom Oktober 1995 wurde das Embargo aufgehoben. Unter Ausklammerung der nach wie vor strittigen Namensfrage nahmen die beiden Staaten diplomatische Beziehungen auf. Im April 1993 war Mazedonien unter dem Namen FYROM (Former Yugoslav Republic of Macedonia) in die UNO aufgenommen worden. Griechenland bestand darauf, dass Mazedonien im internationalen Verkehr nur unter diesem Namen auftreten sollte. Gleichzeitig führte das Abkommen dazu, dass griechisches Kapital zum wichtigsten Auslandskapital in Mazedonien wurde. Das griechische Embargo und das Veto bei der Mitgliedschaft in NATO und EU hat dem griechischen Kapital den Weg zur ökonomischen Übernahme der Nachbarrepublik und einer dominierenden Stellung auf dem Balkan geebnet. Im Namensstreit mit Mazedonien versucht die Regierung von Tsipras jetzt die Früchte der Politik von Papandreou (PASOK) und Karamanlis (ND) einzufahren.
Tatsächlich ist das Gerede von der irredentischen Gefahr aus Mazedonien absolut grotesk. Selbst nach der Krise liegt das Bruttoinlandsprodukt von Griechenland bei etwa 180 Milliarden Euro, das von Mazedonien bei gerade einmal 9 Milliarden. Mazedonien ist einer der ärmsten Staaten Europas mit den größten sozialen Gegensätzen. Griechenland gibt zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das Militär aus, das sind ca. 4 Milliarden Euro. Die Regierung in Skopje hat dafür gerade einmal 90 Millionen Euro zur Verfügung. Die mazedonische Armee hat 16.000 Soldaten, die griechische mit 147.000 fast neunmal so viel. Griechenland hat eine der modernsten Luftwaffen. Die mazedonische Armee hat nicht mal ein einziges Flugzeug.
Die Haltung der griechischen Linken
Anders als Anfang der 1990er Jahre ist die griechische nationalistische Rechte nicht mehr in der Lage die ganze Gesellschaft zu prägen. Der Stadtrat von Athen hat gegen die drei Stimmen der Goldenen Morgenröte abgelehnt zu der Demonstration am 4. Februar aufzurufen. Der Bürgermeister von Thessaloniki hat demonstrativ mit dem sozialdemokratischen Premier von Mazedonien, Zoran Zaev, gemeinsam Silvester gefeiert. In den sozialen Medien drücken viele Menschen ihre Ablehnung und Verachtung für die nationalistischen Demos aus.
Anders als 1992 als der wichtigste Vorläufer von Syriza zu den nationalistischen Demonstrationen aufrief, setzt sich Tsipras jetzt für einen Kompromiss mit der Nachbarrepublik ein. Bis auf Zoi Konstantopoulou haben alle Kräfte der Linken sich klar von den nationalistischen Demonstrationen distanziert. Das Argument von der Bedeutung der nationalen Souveränität, das auch die KKE und die Volkseinheit umtreibt, hat letztlich aber nicht zur Unterstüztung der nationalistischen Demos geführt. Syriza versucht sich gegenüber den EU-kritischen Konkurrenzorganisationen in der Linken als internationalistische Kraft zu präsentieren. Dabei basiert ihre Politik aber selbst auf imperialistischer Erpressung der Nachbarrepublik und hat nichts mit Internationalismus zu tun. Der Versuch Mazedonien einen kombinierten Namen aufzuzwingen, läuft letztlich auf nichts anderes als die Ignoranz des Selbstbestimmungsrechts der mazedonischen Bevölkerung hinaus. Die im November 2015 in der Republik Mazedonien gegründete Partei Levica (Linke) hat die Politik von Syriza in einem offenen Brief kritisiert. Sie schreiben:
»Als eure Partei vor einigen Jahren an die Macht gekommen ist, haben wir das begrüßt. Wir gingen davon aus, dass eine Partei an die Macht gekommen ist, die im Interesse der ganz normalen Bevölkerung agiert. Auch hatten wir geglaubt, dass jetzt seriöse Anstrengungen im Kampf gegen den Nationalismus in unseren beiden Ländern gemacht werden, was unter anderem auch eine Lösung des sogenannten Streits um den Namen auf der Basis des Prinzips der Selbstbestimmung und der Selbstidentifizierung der Völker, einem wichtigen Prinzip der Linken, einschließen würde. Heute, zu Beginn des Jahres 2018, sehen wir, dass die Regierung, der ihr vorsteht, nicht dazu bereit ist, die Prinzipien der Selbstbestimmung und der Selbstidentifikation anzuerkennen und dass ihr aktiv daran arbeitet, die Republik Mazedonien in die NATO zu integrieren. Die rasende Geschwindigkeit mit der ihr meint, den Streit um den Namen zu »lösen«, ohne vorher einen Kampf gegen den Nationalismus in beiden Staaten zu führen, hat ausgesprochen negative Folgen für beide Länder, weil es eine ungeheure Frustration in beiden Ländern hervorrufen und eine neuen aggressiven Nationalismus gebären wird.«
Syriza, KKE und Volkseinheit haben sich entschieden gegen die Demonstationen in Thessaloniki und Athen gewandt. Aber anders als in den 1990er Jahren, als die KKE das Recht der Menschen in Mazedonien auf Selbstbestimmung verteidigte, machen KKE und Volkseinheit dies nun nicht. Beide sprechen sich wie Syriza für eine Verhandlungslösung mit einem kombinierten Namen aus. Grundlage eines solchen kombinierten Namens ist aber die Erpressung des nördlichen Nachbarn durch Griechenland.
Die antifaschistische Organisation KEEFRA fordert dagegen: »Keine Kooperation mit denjenigen, die im Namen des öffentlichen Interesses das Memorandum durchgesetzt haben und jetzt die Bevormundung Mazedoniens versuchen mit dem nationalen Interessen zu begründen.« Antarsya schreibt: »Die einzigen, die dafür verantwortlich sind, zu entscheiden, welchen Namen das eigene Land hat, sind die Menschen, die dort wohnen. Die Pflicht der Linken in Griechenland ist es, sich der imperialistischen Expansion des eigenen Kapitalismus zu widersetzen und nicht den »Irredentismus« in Skopje zu denunzieren. Das Beharren auf einen zusammengesetzten Namen ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Die Menschen in der Republik Mazedonien brauchen keinen Gottvater, Patron oder Retter. Die einzige Kraft, die die Umarmung durch die NATO abwehren kann, ist die Arbeiterklasse in Skopje. Die Pflicht der Linken in Griechenland ist es, ihre Solidarität in diesem Kampf zu zeigen und sich nicht hinter den Aspirationen der griechischen herrschenden Klasse zu versammeln.«
Die NATO als Ursache des neuen Nationalismus
Warum aber kam es gerade jetzt zu diesem neuen Aufschwung des Nationalismus? Seit 2006 war in Mazedonien eine konservative antikommunistische Regierung an der Macht, die unter anderem von der deutschen CDU unterstützte Regierung von Nikola Gruevski und seiner Partei VMRO-DPMNE (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für die Mazedonische Nationale Einheit). Sehr zum Gefallen des Westens war diese Partei, die in der Vergangenheit stark nationalistisch aufgefallen war, nun mit einer scharf neoliberalen, technokratischen und scheinbar ideologiefreien Politik gestartet. Im Jahr 2008 traf diese Politik jedoch auf ein doppeltes Hindernis: Einerseits blockierte Griechenland die Aufnahme Mazedoniens in die NATO mit Verweis auf die ungelöste Namensfrage. Alle mazedonischen Regierungen, gleich ob ex-kommunistisch und sozialdemokratisch oder antikommunistisch und national, halten die NATO-Mitgliedschaft aber für eine notwendige Etappe auf dem Weg in die EU. Hinzu kam die einsetzende Weltwirtschaftskrise, die alle ökonomische Träume Mazedoniens platzen ließ. Seitdem orientierte sich die Politik von Gruevski verstärkt an Orban, Putin und Erdogan, wenngleich er bis zum seinem politischen Ende Anfang 2017 weiterhin auch von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wurde. Der Technokrat Gruevski wurde über Nacht zum scharfen Nationalisten.
Mit dem gigantischen Bauprojekt »Skopje 2014« sollte das Gesicht der mazedonischen Hauptstadt grundlegend umgestaltet werden. Die von dem japanischen Architekten Kenzo Tange nach dem Erdbeben 1963 nach jugoslawisch-modernistischen Konzepten wiederaufgebaute Hauptstadt sollte eine völlig neue nationalistische Fassade bekommen. Das Andenken an die in der Bevölkerung nach wie vor populäre jugoslawische Vergangenheit sollte ausgelöscht werden. Hunderte Gebäude wurden mit neoklassizistischen und neobarocken Fassaden versehen, um dahinter das Antlitz des titoistischen Skopje zu verbergen. In der ganzen Innenstadt wurden zudem unzählige bronzene Skulpturen und Statuen aus der Nationalgeschichte aufgestellt, darunter eine 23 Meter hohe Statue Alexander des Großen. 600 Millionen Euro soll dieses Projekt in nur drei Jahren verschlungen haben und das in einem Land, in dem nicht nur der jährliche Staatshaushalt lediglich 3 Milliarden Euro beträgt, sondern auch eine Mehrheit der Bevölkerung mit umgerechnet 2 Dollar am Tag auskommen muss. »Skopje 2014« war sowohl ein nationalistisches Projekt, als auch ein durch Kredite finanziertes auf einem Bauboom basierendes Investitionsprogramm sowie eine riesige Maschine der Korruption und der Vetternwirtschaft. Die Stadt sieht seitdem aus wie eine Mischung aus Disneyland und Albert Speers Berlin. Es ist die »Hauptstadt des europäischen Kitsches«, wie viele spotten.
Die Herrschaft von Gruevski, die zunehmend autoritäre Züge zeigte, ist aber zugleich auch die Zeit, in der sich zum ersten Mal eine neue Linke im Armenhaus Europas bildete. Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges gehörte Mazedonien zusammen mit dem Kosovo und Albanien zu den unterentwickeltsten Regionen Europas. Titos Entwicklungsdiktatur hatte hier erstmals eine Arbeiterklasse geschaffen. Aber während die 68er-Bewegung auch an allen bedeutenden jugoslawischen Universitäten für Unruhe und Aufruhr sorgte, blieb es an der Uni in Skopje ruhig. In den 1980er Jahren gab es riesige Streikwellen der jungen Arbeiterklasse gegen die jugoslawische Austeritätspolitik. Politisch blieben diese aber richtungs- und ziellos. Vor dem Hintergrund der Kriegsangst in der Bevölkerung beim Übergang in die Unabhängigkeit ließ sich die Opposition leicht auf die Mühlen des Nationalismus umlenken. Nach der Unabhängigkeit, aber tatsächlich auch schon zu jugoslawischen Zeiten, hatte der Nationalismus in einem für westeuropäische Verhältnisse kaum vorstellbaren Ausmaß die politische Debatte dominiert und damit jede eigenständige politische Initiative untergraben.
Unter der Regierung Gruevski kam es nun zum ersten Mal zu massenhaften sozialen Protestbewegungen. Unter der Parole »Aman« (türkisch für »Es reicht«) gingen 2012 Zehntausende auf die Straße um gegen Preissteigerungen zu protestieren. Ein Jahr zuvor hatten tagelang Zehntausende unter der Parole »Stoppt den Polizeiterror« gegen den Todschlag eines Jugendlichen durch Polizisten demonstriert. 2014 und 2015 gingen tausende Studierende auf die Straße, um gegen die Bildungspolitik zu demonstrieren. Aus diesen Protestwellen entstand eine neue junge Linke, die sich zuerst in kleinen Organisationen wie »Lenka« und »Solidarnost« organisierte und im November 2015 die Partei »Levica« gründete. In den Massenprotesten 2015 und 2016 gegen die Regierung Gruevski, der »bunten Revolution«, war die Linke neben den Liberalen (also den ex-kommunistischen Sozialdemokraten des SDSM) die treibende Kraft hinter den Protesten, die schließlich im Dezember 2016 zur Abwahl Gruevskis führten.
Das erfreuliche an den letzten Jahren der Herrschaft von Gruevski war, dass zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit nicht die nationalen Fragen (der außenpolitische Streit mit Griechenland und Bulgarien über den Charakter der mazedonischen Nation und der innenpolitische Konflikt zwischen mazedonischer Mehrheit und albanischer Minderheit) die politische Arena dominierten. In den Protesten versammelte sich die ganze Energie von Mazedoniern, Albanern und Türken gegen die korrupte und unsoziale Regierung, die aus Mazedoniern, Albanern und Türken bestand. Es ging dabei nicht einfach um die Ablösung einer Regierung, sondern um eine grundlegend andere Politik.
Dies war der Kontext, in dem der SDSM von Zoran Zaev in Makdonien Anfang 2017 an die Regierung kam. Doch statt sich der sozialen und demokratischen Probleme des Landes zu widmen, setzte er alles dran, mit der Brechstange, die nationalen Fragen zu lösen. Dafür hatte er kein Mandat von den Wählern bekommen, welche mit ihrer Stimmabgabe die unsoziale und undemokratische Politik der Regierung Gruevski beenden wollten. Dagegen liegt diese Prioritätensetzung ganz im Sinne der USA und der NATO. Nach Montenegro wollen die USA nun Mazedonien in die NATO aufnehmen. Der Namenskonflikt war dafür aber bisher das größte Hindernis, weil Griechenland immer ein Veto eingelegte. Zoran Zaev und Alexis Tsipras geht es bei ihren Verhandlungen also nur vordergründig, um eine Beruhigung der nationalen Frage. Viel wichtiger ist ihnen, dass sie die Unterstützung der USA haben. Dafür legen sie sich nun ins Zeug, um deren Wunsch eines NATO-Betritts von Mazedonien zu erfüllen.
Und wie es zu erwarten war, so beruhigen die griechisch-mazedonischen Verhandlungen für eine Lösung der strittigen Namensfrage keineswegs die Gemüter in den beiden Ländern. Tatsächlich war dieser Konflikt in den letzten Jahren eingefroren. Diesseits wie jenseits der griechisch-mazedonischen Grenze hegen die Menschen mehrheitlich völlig gegensätzlich Meinungen, was die Frage des Staatsnamens Mazedoniens oder die Natur der mazedonischen Nation anbetrifft. Dennoch hatte die Frage in den letzten Jahren einen drastischen Bedeutungsverlust erfahren. Sowohl in Griechenland als auch in Mazedonien hatten die Menschen ganz andere Sorgen. Es ist gerade die von Tsipras und Zaev mit Nachdruck forcierte, vermeintlich so realistische und vernünftige, weil auf einem Kompromiss basierende Lösung, die aktuell, dem darniederliegenden Nationalismus neues Leben einhaucht. Der Grund dafür ist, dass nicht die Interessen der normalen Menschen in Griechenland und Mazedonien im Vordergrund stehen, sondern die Interessen der USA und der NATO.
Die Linke in Mazedonien gibt darauf die richtige Antwort: »Auch unter unserem verfassungsmäßigen Namen wollen wir nicht in die NATO«, erklärt Levica. In der Solidaritätskundgebung des sozialen Zentrums Dunja in Skopje mit dem Zentrum Laetatia in Thessaloniki liegt die Zunkunft des Balkans genauso wie in der Aufforderung der radikalen griechischen Linken, dass die Frage des Staatsnamens Mazedoniens nicht vom griechischen Kapital diktiert werden darf, sondern zum Recht auf Selbstbestimmung gehört. Die NATO-Expansion auf dem Balkan steht dieser Zukunft im Wege.
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Schlagwörter: Balkan, EU, Griechenland, Jugoslawien, KKE, Mazedonien, Nationalismus, NATO, Syriza, Tsipras, USA