Die katholische Kirche will auf einem Krisengipfel Konsequenzen aus den Missbrauchsskandalen erarbeiten. Insbesondere Papst Franziskus hat seine Kirche zum Kampf gegen den Kindesmissbrauch aufgerufen. Doch die Häufung von Missbrauchsfällen im Umfeld der katholischen Kirche geht auf deren Umgang mit Sexualität zurück, meint Maya Mosler im Gespräch mit marx21
Maya Mosler ist Diplom-Psychologin und aktiv in der LINKEN Frankfurt am Main.
marx21: Missbrauch bei der katholischen Kirche, in einer reformpädagogischen Schule, in DDR-Jugendheimen – offensichtlich ist Kindesmissbrauch ein breites gesellschaftliches Phänomen…
Maya Mosler: So will es die katholischen Kirche darstellen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen: »Schaut, Kindesmissbrauch gibt es überall, warum gesondert über uns reden?«. Darin steckt ein wahrer Kern: Schätzungsweise 75 bis 80 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern finden in der Familie statt. Doch Tatsache bleibt: In pädagogischen Einrichtungen der katholischen Kirche ist im Vergleich zu anderen Einrichtungen der Missbrauch von Kindern überproportional häufig: 3000 bestätigte Fälle in Deutschland, unzählige mehr in Irland und den USA. Das ist schon gesondert erklärungswürdig. Die katholische Kirche weist eine besondere Schuld der Kirche aufgrund ihrer repressiven Sexualmoral und dem Zölibat energisch von sich. Bischof Mixa hatte versucht, die 68er-Bewegung und ihre »sexuelle Revolution« verantwortlich zu machen. Sehr viele der jetzt bekannt gewordenen Missbrauchsfälle sind jedoch in den 1950er und 1960er Jahren geschehen, also vor der sexuellen Revolution.
Kindesmissbrauch, Kirche und Homosexualität
Auch Kardinal Bertone, der ehemalige politische Chef des Vatikans und die rechte Hand von Papst Benedikt, »zitiert« nicht namentlich genannte Psychologen, die einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homosexualität festgestellt haben wollen. Diese Äußerungen haben zu Recht einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, nicht nur unter Schwulen- und Lesbenverbänden. Ein »Argument« Bertones ist, dass laut Untersuchungen des Vatikans 60 Prozent der Missbrauchsopfer das gleiche Geschlecht wie die Täter hatten. Doch mit der gleichen »Berechtigung« könnte man behaupten, Heterosexualität sei an den restlichen 40 Prozent schuldig. Da bei den Missbrauchsfällen in den Familien die Mehrheit der Opfer Mädchen und die Mehrheit der Täter Männer sind, könnte man umgekehrt auch behaupten, Heterosexualität sei dort die Ursache für den Missbrauch.
Und was ist deine Erklärung?
Eine gängige These besagt, dass die pädagogischen Berufe Menschen anziehen, die sexuelle Vorlieben zu Kindern haben. Pädagogische Berufe gibt es aber viele – das erklärt die Häufung bei der katholischen Kirche nicht. Andere sagen, dass der autoritäre Charakter der kirchlichen Institutionen, das extreme Machtgefälle zwischen Priestern beziehungsweise Erziehern und Kindern sexuellen Missbrauch begünstigt, der ja auch ein Machtmissbrauch ist. Da ist sicher auch etwas Wahres dran, doch auch so erklärt sich die Häufung nicht: Abhängigkeit und Unterordnung sind im kapitalistischen Betrieb der Normalfall.
Die Kirche unterliegt keiner öffentlichen Kontrolle
Eine Rolle spielt sicher, dass Klosterschulen und kirchliche Heime geschlossene Räume sind, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen. Die Kinder sind dem Aufsichtspersonal ausgeliefert. Aber der Schlüssel zum Verständnis der Problematik ist der repressive Umgang mit Sexualität. Die katholische Kirche pflegt ein völlig eindimensionales Bild von Sexualität – sie ist Mittel zur Fortpflanzung, alles andere ist Sünde, die über das Ventil der Beichte wieder erlassen wird. Der Zölibat ist Ausdruck dieser repressiven Sexualmoral – und Kern des Problems. Die Priester werden mit ihren sexuellen Problemen und Fantasien alleingelassen, übrigens auch schon während ihrer Ausbildung. So ist eine reife sexuelle Befriedigung mit anderen Erwachsenen quasi gar nicht erfahrbar.
Nur 10 Prozent derjenigen, die Kinder als Sexualobjekt begehren, sind tatsächlich pädophil. Nach vorsichtigen Schätzungen sind 80-90 Prozent derjenigen, die sexuellen Missbrauch an Kindern begehen, dem so genannten »regressiven Tätertypus« zuzuordnen: Seine primäre sexuelle Orientierung ist auf Erwachsene gerichtet. Aufgrund der leichten Verfügbarkeit von Kindern, sowie wegen Problemen mit erwachsenen Sexualpartnern greift er zur sexuellen Befriedigung auf Kinder zurück. Man spricht deshalb auch von einem Ersatzobjekttäter. Diese Tätertypologie gibt uns einen Hinweis darauf, warum katholische Priester häufiger Täter werden.
»Reife sexuelle Entwicklung« – was soll das sein?
Ich ziehe den Begriff »reife Sexualität« dem der »normalen Sexualität« vor. Sexualität beim Menschen unterscheidet sich vom Tier. Nach Sigmund Freud ist der Sexualtrieb zwar eine biologische Größe, die Formen seiner Befriedigung unterliegen aber gesellschaftlichen, historischen Normen, die ihrerseits einem ständigen Wandel unterworfen sind. Bekannter Weise galt im antiken Griechenland die Knabenliebe, also männliche Homosexualität mit Heranwachsenden, als höchste Form der Liebe – die Kehrseite davon war, dass die Frau als minderwertig und »schmutzig« angesehen wurde. Den größten Teil seiner Kulturgeschichte hat der Mensch in polygamen Beziehungen zusammengelebt. In unseren Gesellschaften gilt die Monogamie, die Einehe, als »normal«. Die hohe Scheidungsquote und die weite Verbreitung von Prostitution zeigen jedoch, wie brüchig diese »Normalität« ist.
Sexualität als freiwilliges intimes Verhältnis
Unabhängig von den gerade gängigen Normen definiere ich »reife Sexualität« als ein freiwilliges intimes Verhältnis unter Gleichen. Sado-Maso-Spiele, die auf gegenseitigen Absprachen beruhen, sind für mich auch eine Form reifer Sexualität, »normaler« Beischlaf gegen den erklärten Willen eines Beteiligten hingegen nicht – insbesondere wenn derjenige, der diese Grenze überschreitet, genau dadurch einen Lustgewinn erzielt. Kinder als Objekt sexueller Befriedigung zu betrachten ist eine Form misslungener sexueller Reifung, die Ausprägung einer Perversion.
Ist es nicht gefährlich, wenn Linke den Begriff »Perversion« verwenden? Schließlich galt Homosexualität lange Zeit als »pervers«.
Freud hat in der Tat jede sexuelle Befriedigung als pervers (widernatürlich oder krankhaft) bezeichnet, die von den zu seiner Zeit geltenden sexuellen Normen abgewichen sind. Als pervers galten damals alle Formen der Sexualität, außer der zwischen Mann und Frau. Die 68er-Bewegung hat zu einer Liberalisierung dieser Ansichten geführt. Jede sexuelle Beziehung, auch gleichgeschlechtliche, die auf Freiwilligkeit unter Gleichen beruht ist meines Erachtens nicht pervers.
Wie soll sich die Linke zum Thema Kindesmissbrauch positionieren?
Wir sind gegen Sexualität von Erwachsenen mit Kindern, weil dies keine Sexualität unter Gleichen darstellt und bei den Opfern schwere seelische Schäden hinterlässt. Gleichzeitig sollten wir für einen freien Umgang mit Sexualität eintreten. Nach Bischoff Mixa hat auch der ehemalige hessische FDP-Vorsitzende Jörg-Uwe Hahn den liberalen Umgang der 68er-Bewegung verantwortlich für den Missbrauch gemacht. Auch das ist meines Erachtens ein Ablenkungsmanöver von der Verantwortung der Katholischen Kirche. Denn es ist gerade die Tabuisierung des Sexuellen, die es Kindern erschwert, sich zu verweigern und sich nach sexuellen Übergriffen erwachsenen Vertrauenspersonen anzuvertrauen.
Kinder und Sexualität
Kinder haben ein Recht darauf, ihre eigene Sexualität zu entdecken und ein Recht auf Neugier in Bezug auf Sexualität zwischen Erwachsenen. Erwachsene sollten ihnen Fragen dazu in kindgerechter Sprache beantworten. Dazu bedarf es einer feinen Balance von Distanz und Nähe. Ich sehe die nötige sexuelle Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen nicht mehr gewahrt, wenn Erwachsene Kinder nötigen, sie anzufassen. Anders sieht es aus, wenn Kinder miteinander durch »Doktorspiele« oder allein durch Selbstbefriedung ihre Sexualität entdecken. Das zu unterbinden und den Kindern ein schlechtes Gewissen zu machen, hemmt die Entwicklung.
Das ist jetzt eher eine Frage der Sexualerziehung – aber was ist mit den Tätern und der Bedrohung, die von ihnen ausgeht? Gerhard Schröder empfahl einst angesichts hoher Rückfallquoten: »Wegsperren, und zwar für immer«.
Die hohen Rückfallquoten sind ein Mythos. Nach unterschiedlichen Studien liegt die Rückfallquote bei unbehandelten Straftätern bei 18 Prozent, durch eine Therapie kann die Quote auf 9 Prozent halbiert werden – Therapie ist also durchaus nicht vergebene Müh, sondern sinnvoll. Die Wirksamkeit von Therapien hängt stark vom Tätertypus ab. Beim »pädophilen Täter«, der ausschließlich durch Kinder erregt wird, ist die Therapie schwieriger. Auch der so genannte »soziiopathische Täter«, dem das Quälen von Menschen Spaß macht, ist nur sehr schwer therapierbar. Diese Tätergruppen machen zusammen aber nur rund 10 Prozent der Sexualstraftäter aus. Vor ihnen muss die Gesellschaft geschützt werden. Entscheidend ist natürlich die Verfügbarkeit von qualifizierter Betreuung. Ob die knapp 2000 Therapieplätze so auch bestehen blieben, ist aufgrund der Schuldenkrise von Ländern und Kommunen unklar. Die LINKE sollte sich dafür einsetzen, dass diese Therapieplätze erhalten bleiben und ausgebaut werden.
Die Fragen stellte Stefan Bornost
Schlagwörter: Inland, Katholische Kirche, Kindesmissbrauch, Maya Mosler, Missbrauch, Sexualität, Zölibat