Harris vs. Trump: Ein Gespräch mit der New Yorker Sozialistin und Aktivistin Natalya Tylim über eine Wahl, die keine ist, und die Herausforderungen der US-Linken
Natalya Tylim lebt in New York und ist seit fast 20 Jahren Sozialistin. Im Sommer 2020 hat sie mit anderen das Tempest Collective gegründet. Sie arbeitet seit vielen Jahren in der Gastronomie und ist in der Bewegung für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aktiv. Derzeit konzentriert sie sich auf den Aufbau des Tempest Collective, um eine revolutionäre Strömung in den USA mit aufzubauen.
marx21: Präsidentschaftswahlen in den USA sind auch in Deutschland jedes Mal ein regelrechtes Medienspektakel. So auch dieses Jahr – »Zombie Biden«, der über die Bühne schlurfte, der gescheiterte Attentatsversuch auf Trump und der überraschende Aufstieg von Kamala Harris. Wie blickst du auf die Ereignisse der letzten Monate und auf die Wahl insgesamt?
Natalya: Auch in den USA dreht sich die Berichterstattung in den Mainstream-Medien fast ausschließlich um einzelne Personen. Aber das ist eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise. Tatsächlich sind die Probleme viel tieferliegend. Das politische Klima weltweit ist durch die Instabilität des Wirtschaftssystems geprägt, was zu einer extremen politischen Polarisierung führt – sowohl nach links als auch nach rechts. Seit der Finanzkrise von 2008 gibt es tiefe Risse in der sozialen und politischen Ordnung, die sich nicht stabilisieren lassen. Die sinkende Lebensqualität sowie ein zunehmendes Gefühl der Verzweiflung sind weltweit zu spüren, bei uns in den USA ist das aber besonders stark ausgeprägt.
Wie äußert sich diese soziale Misere in den USA?
Die Löhne sind extrem niedrig. Seit 40 Jahren hängen sie der Inflation hinterher und die Menschen können sich immer weniger leisten. Es gibt kein staatliches Gesundheitssystem, was verheerende Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat. Schulden infolge medizinischer Behandlungen sind die Hauptursache für Privatinsolvenzen. Menschen geraten in Armut, weil sie medizinische Versorgung benötigen. Hinzu kommt die unglaubliche Verschuldung durch Studienkredite. Viele Menschen können sich ein Leben lang nicht von diesen Schulden befreien. All das führt zu einem dramatischen Rückgang der Lebenserwartung. Die Selbstmordrate in den USA ist seit dem Jahr 2000 um 40 Prozent gestiegen, die Zahl der Drogentoten durch eine Überdosis unter jungen Arbeiter:innen hat sich verdreifacht. Die Waffengewalt hat sich seit 2013 verdoppelt. Schusswaffengewalt ist inzwischen die häufigste Todesursache unter Kindern und Jugendlichen.
Dazu kommen immer wieder rassistisch motivierte Morde und die Abschiebung von Migrant:innen. Migration ist ein zentrales Thema der politischen Krise. Daneben gibt es Angriffe auf Transpersonen und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, das wir vor zwei Jahren auf Bundesebene verloren haben. Diese Entwicklungen nehmen qualitativ zu. Auch wenn die Rechte politisch unbeliebt bleibt, prägt sie doch die Reaktion auf die Krise.
Warum ist das so? Was macht die politische Rechte richtig bzw. die Linke falsch?
Eine der großen Herausforderungen für die Linke in den USA ist, dass es zwar enorme soziale Unruhen und große Proteste gab sowie auch einen Aufschwung von Arbeitskämpfen, es aber an Institutionen fehlt, die diese Kräfte organisieren können. Immer wieder fließen diese Bewegungen in die Demokratische Partei zurück – eine Partei, die nicht die Interessen der Mehrheit der Menschen vertritt. In dieser Situation ist es der Rechten gelungen, viele ihrer Forderungen durchzusetzen und ihre ideologischen und politischen Antworten auf die Krise erfolgreich zu verbreiten. Das ist wirklich beängstigend und zeigt, wie wichtig es ist, eine unabhängige Linke aufzubauen.
Das Phänomen Donald Trump
Hierzulande wird viel über den Zustand der Republikanischen Partei nach 2016 diskutiert, insbesondere auch darüber, ob im Trumpismus eine faschistische Bedrohung zu sehen ist. Wie siehst du das?
Es lässt sich nicht leugnen, dass Trump gefährlich ist. Seit er in die nationale Politik eingetreten ist, hat er viel Instabilität geschaffen und großen Schaden angerichtet. Er fördert auch faschistische Elemente, die auf den Kampf um die Straße orientieren. Aber ich denke auch, dass in den USA oft überschätzt wird, wie nah wir tatsächlich am Faschismus dran sind.
Obwohl Trump ein »Lumpenkapitalist« ist, hat er es geschafft, die Institutionen des Staates zu unterwandern.
Sam Farber, ein Genosse, hat Trump einmal als »Lumpenkapitalisten« bezeichnet. Der Begriff des »Lumpenproletariats« bezeichnet bei Marx Menschen, die vom normalen Funktionieren des kapitalistischen Systems ausgeschlossen und auf illegale Wege angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Farber argumentiert, dass Trump sich in einer ähnlichen Position gegenüber der herrschenden Klasse befindet. Er ist Teil der kapitalistischen Klasse, aber er steht am Rande. Dennoch saugt er Ressourcen aus dem bestehenden System heraus und das prägt sowohl seine Politik als auch seine Geschäfte. Obwohl Trump ein »Lumpenkapitalist« ist, hat er es geschafft, die Institutionen des Staates zu unterwandern. Das US-System konnte ihn nicht aufhalten oder kontrollieren. Gegen ihn gibt es etwa 90 strafrechtliche Anklagen, die sehr glaubwürdig sind, aber die meisten von ihnen werden nie verhandelt werden. Und es ist ihm gelungen, das Land auf eine Weise zu destabilisieren, die die Demokraten und die kapitalistische Klasse trotz aller Bemühungen nicht in den Griff bekommen haben.
Was ist die soziale Basis hinter dem Phänomen Donald Trump?
Trump hat sich auf Kleinunternehmer und andere »Lumpenkapitalisten« gestützt. Aber durch seine oppositionelle Haltung und die Behauptung, er reagiere auf die Instabilität, konnte er auch eine Alternative präsentieren – eine sehr reaktionäre Alternative –, die in Teilen der Arbeiterklasse Fuß fassen konnte. Die Rechte und Trump sprechen die zunehmende Unsicherheit an, das wachsende Gefühl der Angst, das Gefühl des Untergangs. Ihre Antwort ist immer die gleiche: Die Schwächsten und Randgruppen der Gesellschaft werden für die Probleme verantwortlich gemacht, um die Macht und die Ressourcen der herrschenden Elite zu schützen.
Trotz all dem muss man aber auch anerkennen, dass die herrschende Klasse Trump nicht will. Sie haben sich klar hinter der Demokratischen Partei als der ersten Wahl des US-Kapitalismus versammelt, weil Trump etwas extrem Destabilisierendes und Gefährliches für das US-Imperium darstellt – die wichtigste imperiale Supermacht, die sehr darauf bedacht ist, ihre Macht zu kontrollieren und zu erhalten, um ihre imperialen Interessen zu schützen.
Kamala Harris und die Demokraten
Das sieht man auch an der Rekordsumme an Spendeneinnahmen, die Harris in kürzester Zeit nach Bekanntgabe von Bidens Rückzug ergattern konnte. Wie bewertest du die Demokratische Partei?
In den meisten anderen politischen Kontexten würde man die Demokraten als rechtsliberale kapitalistische Partei betrachten. Aber in den USA werden sie aufgrund unseres verzerrten Wahlsystems als links dargestellt und die Linke grenzt sich leider auch nicht unbedingt von dieser Partei ab. In Wirklichkeit waren sie aber schon immer eine kapitalistische Partei und stützen sich zunehmend auf eine elitäre Basis. Außerdem sind die Demokraten keine traditionelle Partei mit einer Mitgliederstruktur.
Auch die Demokratische Partei ist zunehmend nach rechts gerückt.
Die Demokratische Partei ist ein weit verzweigter, landesweiter Apparat aus wohlhabenden, kapitalistischen Spender:innen. Ihre Herausforderung besteht darin, dass sie auf eine klassenübergreifende Koalition angewiesen ist, um genügend Stimmen zu bekommen – nicht um die Arbeiterklasse mitbestimmen zu lassen, aber sie braucht ihre Stimmen an der Wahlurne. Diese traditionelle Koalition der Demokraten steht aber gerade unter starkem Druck.
Weil die Demokraten der lohnabhängigen Bevölkerung wenig anzubieten haben?
Ja, in dem Maße, in dem sich die sozialen, politischen und imperialen Krisen verschärfen, wird es immer schwieriger, diese Koalition zusammenzuhalten. Das haben wir bei den letzten Wahlen immer wieder gesehen. Joe Biden hat extrem niedrige Zustimmungsraten. Aber gleichzeitig hat er genau das getan, was er für das System tun sollte. Er hat die Wirtschaft stabilisiert, die Geldschwemme beendet und das Gesicht des US-Imperialismus seriöser und kontrollierter erscheinen lassen, als es unter Trump der Fall gewesen wäre.
In Deutschland erleben wir derzeit, dass angesichts des Aufstiegs der AfD auch die anderen Parteien massiv nach rechts rücken, vor allem beim Thema Asyl und Migration, aber auch was »law and order«-Politik insgesamt betrifft, also etwa dem Ausbau des staatlichen Sicherheitsapparats und einer allgemein autoritäreren Gangart. Wie reagieren die Demokraten in den USA auf den Rechtsruck? Halten sie dagegen?
Auch die Demokratische Partei ist zunehmend nach rechts gerückt. Im Jahr 2020 wurde Kamala Harris noch zu sehr als Polizistin wahrgenommen, um zu kandidieren. Es war die Zeit der George-Floyd-Bewegung. Alle sprachen davon, die Polizei abzuschaffen bzw. ihr die Finanzierung zu entziehen. Antirassistische Politik stand im Mittelpunkt der nationalen Diskussion. Seither wurde die Black-Lives-Matter-Bewegung durch die Politik und symbolischen Gesten der Demokratischen Partei jedoch zunehmend kaltgestellt. Und jetzt tritt Kamala Harris, dieselbe Person, die 2020 nicht kandidieren konnte, weil sie als Staatsanwältin zu sehr als »law-and-order«-Person verschrien war, mit einem Programm für Recht und Ordnung, strengere Grenzkontrollen und einen Ausbau des staatlichen Repressionsapparats an. Ihre Politik ist klar: Sie ist eine »Gemäßigte«. Aber es gibt diese wilde Begeisterung in der progressiven und sozialistischen Linken, weil ihre Kampagne so viel Energie erzeugt hat.
Die Linke und die Logik des kleineren Übels
Woher kommt diese Energie?
Ich denke, das hat viel mit der sehr realen Angst vor Trump zu tun und mit der Vorstellung, dass Harris im Vergleich zu Biden schlicht die besseren Chancen hat, zu gewinnen. Viele in der Linke machen sich aber Illusionen. So wie die Wahl von Harris der Weg zur Gerechtigkeit sein soll, so wird Harris auch als Weg zu einem Waffenstillstand in Palästina gesehen. Das wurde noch verstärkt, als Tim Walz als ihr Vizepräsidentschaftskandidat ausgewählt wurde. Es gab noch andere Kandidaten, die sie in Betracht zog, die weiter rechts stehen.
Es gibt also Leute in der sozialdemokratischen und sozialistischen Linken, die sagen, dass die Entscheidung für Walz zeigt, dass Harris auf die Linke hört und sich von ihr beeinflussen lässt, was sie mit ihrer Kampagne machen soll.
Das trifft aber nicht zu?
Natürlich müssen die Demokraten versuchen, an die Bewegungen zu appellieren, weil sie auf die Stimmen der Menschen angewiesen sind, die den Kampf gegen Rassismus oder den Kampf für ein freies Palästina unterstützen. Aber anstatt sich darauf vorzubereiten, gegen eine neue kapitalistische Regierung zu kämpfen, stürzen sich Bewegungen und Gewerkschaften in den Wahlkampf, sammeln Spenden und werben um Stimmen für Harris.
Alles wird der Frage untergeordnet, ob diese oder jene politische Partei gewählt wird, die eigentlich nicht die Dinge unterstützt, für die unsere Bewegungen kämpfen.
Die organisierte Linke in den USA sieht sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Teil der Demokratischen Partei oder als Akteurin, die versucht, diese zu beeinflussen. Das macht auch ultralinke politische Orientierungen für die militantesten Teile der Palästina-Bewegung und die radikalisierte Jugend attraktiver, weil die radikalsten Teile der Gesellschaft nirgendwo anders hingehen können. Es gibt keine nationale Organisation, die in der Linken eine Alternative zu den Demokraten darstellt.
Bleiben wir bei der organisierten Linken innerhalb des Ökosystems der Demokratischen Partei. Was ist mit Gruppen wie den »Democratic Socialists of America« (DSA)? Wie stehen sie zu Kamala Harris und ihrer Kampagne?
Der verbreitetste Ansatz unter Linken im Orbit der Demokraten, so auch der DSA, lautet in etwa so: Wir können beides tun. Wir können sagen, dass wir Kamala Harris als Präsidentin brauchen und gleichzeitig den Widerstand gegen sie aufbauen. Aber das Problem ist, dass das in der Praxis bisher nicht möglich war. Die Hauptaktivität besteht darin, den Leuten zu sagen, dass die zentrale Frage, ob wir einen Waffenstillstand in Palästina erreichen können, davon abhängt, ob Trump oder Harris die Präsidentschaft gewinnt. Das untergräbt aber die Maßnahmen, die nötig wären, um in der Arbeiterbewegung, in der Palästina-Bewegung, in der Bewegung für das Recht auf Abtreibung voranzukommen. Alles wird der Frage untergeordnet, ob diese oder jene politische Partei gewählt wird, die eigentlich nicht die Dinge unterstützt, für die unsere Bewegungen kämpfen. Es entsteht eine Art Logik des kleineren Übels, die die Entwicklung von Aktionen und Kräften, die tatsächlich etwas bewirken könnten, verhindert. Dieser Ansatz erkennt zwar die Notwendigkeit an, Bewegungen zu organisieren, aber lässt die Strategie zum Aufbau dieser Bewegungen letztlich über die Demokratische Partei laufen.
Keine Wahl: Das politische System der USA
Inwiefern stützt sich diese Logik des kleineren Übels auf das politische System der USA?
Man muss sich bewusst machen, dass die Verfassungsstruktur in den USA immer darauf ausgelegt war, die Herrschaft einer kleinen Minderheit und des Kapitals zu schützen. Als die Verfassung geschrieben wurde, war das Ziel, die Herrschaft der Sklavenhalter im Süden aufrechtzuerhalten. Selbst nach dem Bürgerkrieg, in dem die Sklaverei abgeschafft wurde, blieben zentrale Elemente dieses Systems und der Verfassungsordnung bestehen. Vor allem die Beibehaltung der Minderheitenherrschaft, auch im Süden. Die US-Verfassung ist darauf ausgelegt, die Eigentumsrechte einer Minderheit zu schützen und fußt auf einem rassistischen Regime. Diese Grundlagen gelten bis heute, auch wenn sich seit der Abschaffung der Sklaverei vieles verändert hat.
Unterscheidet das die USA von anderen repräsentativen Demokratien, etwa in Europa?
Der Amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 war die letzte politische Revolution in den USA. Er veränderte den politischen Rahmen, aber er hat ihn nicht völlig umgestürzt. Das unterscheidet die USA von den meisten europäischen Ländern, wo es eine Reihe demokratischer Fortschritte gab, die die Verfassungsordnung verändert haben.
Die Volksabstimmung in den USA entscheidet nicht wirklich darüber, wer gewählt wird.
Wir befinden uns immer noch in unserer ersten Republik. Wenn man darüber nachdenkt, wie das politische System der USA dadurch strukturiert und eingeengt wird, und wie groß das Demokratiedefizit auf allen Ebenen der Gesellschaft ist, kann man sich vorstellen, dass das auch die Erwartungen und Horizonte im weiteren Sinne einschränkt.
Wie meinst du das?
Viele Menschen in den USA empfinden das politische System als extrem befremdlich und bürokratisch – ein Chaos, das die meisten nicht einmal verstehen, geschweige denn wissen, wie sie damit umgehen sollen. Die Volksabstimmung in den USA entscheidet nicht wirklich darüber, wer gewählt wird. Stattdessen gibt es ein Wahlmännergremium, das jedem Bundesstaat auf der Grundlage der Bevölkerungszahl eine bestimmte Anzahl von Stimmen zuweist. Das bedeutet, dass die meisten Menschen, die ihre Stimme abgeben, buchstäblich keinen Einfluss darauf haben, wer am Ende gewählt wird, unabhängig von der Wahlbeteiligung. Wenn nur wenige Leute wählen gehen, kann das wahlentscheidend sein. In den USA gab es bereits fünf Präsidenten, darunter auch Trump im Jahr 2016, die weniger Stimmen bekamen als ihre Kontrahenten, aber dennoch die Präsidentschaft gewonnen haben.
Warum ist es nie einer dritten Partei gelungen, sich als Konkurrenz zu Demokraten und Republikanern zu etablieren?
Einer der Gründe, warum es nur zwei Parteien gibt, ist, dass das Wahlsystem so aufgebaut ist, dass es die Möglichkeiten neuer Parteien, an Boden zu gewinnen, untergräbt. Die Wahlgesetze und die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Wahllisten sind in jedem Staat anders. Es ist also nicht so, dass man sagen kann: »Wir kandidieren auf nationaler Ebene, das ist unser Programm«, sondern man muss sich den Zugang zu den Wahllisten in jedem Bundesstaat erkämpfen, um dann als nationale Kandidatur antreten zu können. Es gibt auch Bestimmungen in den Staaten, die es erlauben, den Zugang zu den Wahllisten zu blockieren. Erst vor wenigen Tagen wurde einer sozialistischen Organisation namens PSL der Zugang zu den Wahllisten verwehrt. Das führt dazu, dass der Wahlprozess völlig entfremdet und entpolitisiert wird, weil er so bedeutungslos erscheint und es fast unmöglich ist, sich auf sinnvolle Weise zu beteiligen. Du kannst dir vorstellen, welche Auswirkungen das auf das politische Engagement hat.
Linke Alternativen zu Harris
Zuletzt gelang es Bernie Sanders mit seinen Kampagnen für die Nominierung zum Präsidentschaftskandidat der Demokraten 2016 und 2020 Millionen linker Wähler:innen zu mobilisieren.
Natürlich gab es solche Momente. Die Sanders-Kampagnen waren der deutlichste Ausdruck davon. Aber es gab keinen klaren Plan, diese Momente zu nutzen, um etwas Neues aufzubauen und die Energie und Beteiligung, die in den Wahlkämpfen zum Ausdruck kam, zu nutzen, um mit der Demokratischen Partei zu brechen. Sanders wollte nie mit der Demokratischen Partei brechen, das war nie sein Ziel. Am Ende waren die Demokraten die Nutznießer dieses Moments, obwohl die Menschen eine Alternative zu den Demokraten wollten. Und das treibt das gesamte politische Spektrum konsequent nach rechts. Es senkt die Erwartungen und erweckt den Eindruck, dass die Überwindung dieser Grenzen keine Option ist. Ein weiteres Beispiel ist Alexandria Ocasio-Cortez, die als eine der führenden Figuren der »Squad« gilt, die als Opposition zur Demokratischen Partei gesehen wurde. Im Jahr 2020 sagte sie, dass Biden und sie in jedem anderen Land in verschiedenen Parteien wären. Doch bei der jüngsten Democratic National Convention (DNC, Parteitag der Demokratischen Partei in den USA, der im Turnus von vier Jahren stattfindet, Anm.d.Red.) lobte sie Biden und sagte, dass Kamala Harris unermüdlich daran arbeite, einen Waffenstillstand in Gaza zu erreichen. Und das ist das ständige Dilemma der US-Linken, aus dem wir uns zu befreien versuchen.
Wie geht ihr als Tempest Collective mit dieser Zwickmühle um? Habt ihr einen Ansatz, um euch von der Logik des geringeren Übels zu befreien?
Wir sind eine kleine Organisation in einem riesigen Land, aber wir glauben fest daran, dass wir trotzdem etwas bewirken können. Wir schwimmen gegen den Strom und müssen Argumente vorbringen und Teil der Bewegungen sein, um unsere Standpunkte auf jede mögliche Weise klarzumachen. Nach dieser Wahl wird jemand Präsident sein und die Widersprüche werden nicht verschwinden.
Es hat eine Wiederbelebung der Gewerkschaftsbewegung stattgefunden.
Wir müssen also mit klaren Argumenten, Strategien und Forderungen organisieren. Es geht darum, die Argumente klar zu machen, aber auch in so vielen Organisationsräumen wie möglich aktiv zu sein, um das politische Engagement über den Wahlkampf hinaus zu erhöhen. Wir wissen, dass die politische Situation nicht stabiler wird. Und es kann immer Entwicklungen geben, die die Lage plötzlich komplett verändern. So etwas passiert in den USA alle paar Jahre, also können wir davon ausgehen, dass es wieder passieren wird.
Was sind das für Kämpfe, an denen ihr gerade beteiligt seid? Wie ist der Stand der Arbeitskämpfe und wie wirkt sich das auf die politische Landschaft aus?
Die Führungen der großen Gewerkschaften in den USA stehen fast ausnahmslos hinter der Demokratischen Partei. Die einzige große Ausnahme sind die Teamsters, die beide Parteien opportunistisch umwerben. Es geht in den Gewerkschaftsführungen also nicht darum, ob sie den Bruch nach links suchen, sondern eher ob sie nach rechts mit den Demokraten brechen. Es hat jedoch auch eine Wiederbelebung der Gewerkschaftsbewegung stattgefunden. Junge Leute interessieren sich sehr für Gewerkschaften. Es gibt einige Streiks, wie den Streik in der Krankenpflege, der parallel und ganz in der Nähe des DNC stattfand, aber er wurde in den Hintergrund gedrängt, weil die nationale Aufmerksamkeit woanders liegt. Streiks im Gesundheitswesen sind extrem wichtig, da dieser Sektor von Covid besonders hart getroffen wurde. Auch in anderen Sektoren gab es zuletzt Arbeitskämpfe. Aber es gibt keinen zentralen Streik, der das politische Terrain oder den Wahlkampf wirklich verändert.
Trotz der großen Chancen in der Gewerkschaftsarbeit fehlt es nach wie vor an Klarheit darüber, was es bedeutet, eine stärkere Orientierung an der Basis aufzubauen. Es gibt viele junge Leute, die die Gewerkschaften umgestalten wollen, indem sie die Macht in den Gewerkschaften übernehmen, aber am Ende oft die gleiche bürokratische Dynamik in den Reformfraktionen wiederherstellen.
Habt ihr alternative Konzepte dazu?
Unsere Genoss:innen in den Gewerkschaften denken darüber nach, welche Strategien und Taktiken uns in die Lage versetzen, demokratischere Räume zu schaffen, die Bedeutung des Kampfes in diesen Räumen zu erhöhen und dem eher legalistischen Ansatz zu widerstehen, der in den letzten 40 Jahren in den Gewerkschaften vorherrschend war. Unsere Mitglieder sind Teil von Reformausschüssen in der United Auto Workers for Democracy, in verschiedenen Lehrergewerkschaften in Chicago und New York, wo sie versuchen, herauszufinden, wie sich auf diesen Dingen aufbauen lässt und wie die Grenzen der bestehenden Gewerkschaftsstrategie überwunden werden können.
Besonders die Palästina-Bewegung hat dazu beigetragen, dieses Problem anzugehen. Es war beeindruckend, wie viele junge Arbeiter:innen aus der Basis die politische Forderung nach einem Waffenstillstand in den Kontext einer Gewerkschaftsbewegung eingebracht haben, in der es fast verboten ist, auf eine bestimmte Art und Weise über Politik zu sprechen – das wird einfach nicht gemacht. Letztendlich müssen die Gewerkschaften diese Fragen aufgreifen. Wenn wir eine Arbeiterpartei oder eine Bewegung haben wollen, die wesentlich größer und einflussreicher ist, wird es letztendlich zu einem Bruch mit der Demokratischen Partei auf dieser Ebene kommen müssen.
Solidaritätsbewegung mit Palästina
Du hast schon mehrmals die Rolle der Protestbewegung gegen den Krieg in Palästina erwähnt. Kannst du uns mehr darüber erzählen, was sich da gerade ereignet?
Man kann die Bedeutung des Kampfes für Palästina im letzten Jahr gar nicht hoch genug einschätzen. Die Proteste, die an einem Arbeitsplatz nach dem anderen und in einer Stadt nach der anderen auftraten, und die Entstehung von Camps an den Universitäten, haben die US-Politik in diesem Jahr grundlegend geprägt. Sie werfen ein Licht auf die Realität des US-Imperialismus, und zwar so, dass er nicht einfach ignoriert werden kann. Für die Demokraten ist das kein Thema, bei dem sie einknicken können. Sie können und wollen in der Frage des Zionismus keine Zugeständnisse machen. Während die Menschen also aktiv werden, sehen wir immer mehr, wie die Realität dieses Systems aussieht und wie die Realität dieser beiden Parteien aussieht. Und dass die Demokraten das zugelassen haben. Es wird also schwieriger, diese Bewegung zu kooptieren. Gegenüber der Black-Lives-Matter-Bewegung konnten sie sagen: Ja, wir bewegen uns in Richtung Diversität und Inklusion, wir hören zu, wir tun etwas; Konzerne hängen Plakate auf, auf denen steht, dass ihnen das Leben der Schwarzen wichtig ist. Aber in Bezug auf Palästina geht das nicht, weil sie in dieser Frage keine Zugeständnisse machen können.
Gegen Harris wird für ihre Unterstützung des Völkermords protestiert, wo immer sie spricht.
Und so denke ich, dass trotz all der Dinge, die ich über Harris gesagt habe, und der Art und Weise, wie ein Großteil der Linken sich auf Linie bringen lässt, um sie zu unterstützen, es hier einen gegensätzlichen Faktor gibt. Gegen Harris wird für ihre Unterstützung des Völkermords protestiert, wo immer sie spricht. Die Demokraten versuchen, die Forderungen der Bewegung aufzufangen und behaupten, sie seien für einen Waffenstillstand. Aber was sie damit meinen, ist ein vorübergehender Waffenstillstand, der es Israel immer noch erlaubt, seine genozidale Politik fortzusetzen. Im Grunde hat sich nichts an ihrer Politik geändert. Harris hat gerade erst wieder betont, dass sie Israel weiterhin unterstützen wird.
Herrscht hier innerhalb der Demokratischen Partei Einigkeit?
Es gibt auch innerhalb der Demokraten einen gewissen Widerstand. Einige von ihnen sind Delegierte der Demokratischen Partei. Und sie haben gesagt, dass sie ihre Unterstützung zurückhalten, bis ihre Forderungen nach einem sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand, einem Waffenembargo und einem Ende der Belagerung des Gazastreifens erfüllt sind. Sie sagten, wenn das erfüllt sei, würden sie Biden zunächst unterstützen. Und nun haben sie auf dem Parteitag der Demokraten eine wichtige Rolle gespielt, indem sie gegen die Politik der Unterstützung des Genozids durch die Demokratische Partei protestierten. Ihre Hauptforderung für den Parteitag war dabei lediglich, dass ein palästinensischer Amerikaner auf dem Podium sprechen darf – und die Demokraten sind nicht darauf eingegangen. Sie ließen zwar zwei Eltern einer israelischen Geisel auf dem Podium sprechen, aber ein Palästinenser, das war zu viel. So kam es zu Sitzstreiks, und noch heute gibt es Gruppen, die ihre Unterstützung für Harris zurückziehen. Das ist von Bedeutung, weil Michigan einer der entscheidenden Staaten in den USA ist. Er ist einer der wenigen Staaten, die tatsächlich wahlentscheidend sind und in denen es eine große palästinensische Gemeinde gibt.
Ich weiß also nicht genau, worauf das alles hinauslaufen wird. Aber es scheint klar, dass Palästina nicht nur eine Randnotiz ist. Palästina prägt die US-Politik. Und da es nicht in das Lager der Demokratischen Partei integriert werden kann, müssen wir uns darauf konzentrieren, die Organisationen und Kampagnen weiterzuentwickeln, die diese Art von Druck und Empörung aufrechterhalten können, die den Diskurs erweitert haben, das Bewusstsein der Menschen für Palästina geschärft haben, in die Gewerkschaftsarbeit eingedrungen sind und an Universitäten im ganzen Land zu einem Thema geworden sind. Palästina wirft all die strategischen Fragen auf, über die ich gesprochen habe. Und ich denke, es ist wirklich grundlegend dafür, wie wir eine stärkere und wirkungsvollere Linke aufbauen können. In vielerlei Hinsicht steht es momentan im Zentrum der sozialistischen Strategie.
Natalya, vielen Dank für deine Einblicke!
Das Interview führte George Rainov.
Schlagwörter: Demokraten, Trump, US-Präsident, US-Wahl, USA