Die US-Wahl ist das politische Ereignis des Jahres. Doch es gab Zeiten, da konnten die Amerikaner mehr als nur Demokraten und Republikaner wählen. Anfang des 20. Jahrhunderts forderte der Sozialist Eugene Debs die Parteien der Herrschenden heraus und half dabei die zersplitterte sozialistische Bewegung zur drittstärksten Partei zu machen. Von Elizabeth Schulte
»Die Arbeiter in den Mühlen und den Fabriken, in den Minen und auf den Farmen und bei den Eisenbahnen hatten nie eine eigene Partei, bis die Socialist Party gegründet wurde«, erklärte Eugene Debs im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1912. »Sie haben ihre Stimmen auf die Parteien ihrer Herrscher aufgeteilt. Sie begriffen nicht, dass sie ihr Stimmrecht einsetzten, um ihre eigenen Fesseln zu schmieden.«
Während seines Wahlkampfs reiste Debs durch das ganze Land und sprach bis zu fünf Mal am Tag. Seine Reden erreichten schätzungsweise eine halbe Million Menschen. Im Wahlkampfjahr 1912 erschienen 323 sozialistische Zeitungen und Zeitschriften. Der Appeal to Reason (Appell an den Verstand), eine der meist gelesenen sozialistischen Zeitungen, hatte eine Auflage von 600.000 Stück.
Debs und der Wahlkampf hinter Gittern
Bei der Wahl erhielt Debs 897.000 Stimmen. Da Frauen damals nicht wählen durften, entsprach das sechs Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Für die Socialist Party (SP) schlug sich der Wahlkampf in einem beträchtlichen Wachstum nieder, an dessen Ende sie 118.000 Mitglieder zählte.
Der Wahlkampf war besonders erfolgreich in Gegenden mit linken SP-Verbänden, die vor Ort Arbeitskämpfe unterstützten. Einen Stimmenzuwachs von 300 Prozent gegenüber den Wahlen von 1908 konnte die SP, so schreibt der Historiker Ira Kipnis, in Allegheny (Pennsylvania) verzeichnen, wo ihre Mitglieder sich an Gewerkschaftsaktivitäten und Streiks beteiligten. Die in der Arbeiterbewegung nur schwach verankerten Landesverbände in Wisconsin, New York und Massachusetts waren weit weniger erfolgreich.
Der Wahlkampf von 1912 war der vorletzte, bei dem Debs kandidierte. Seine letzte Kandidatur im Jahr 1920 bestritt er hinter Gittern im Bundesgefängnis von Atlanta. Dort saß er eine Strafe ab, weil er 1918 öffentlich gegen den Ersten Weltkrieg agitiert hatte. Bei Tausenden aus der Arbeiterklasse, die die Korruption und die Brutalität des Kapitalismus aus eigener Erfahrung kannten, fanden Debs‘ Kampagnen Anklang.
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Streikwellen in den USA
Debs wurde aber keineswegs als Sozialist geboren. Es war seine Umwelt, die ihn dazu machte. Während seiner Lebenszeit (1855-1926) durchlief der Kapitalismus einen tiefgreifenden Wandel: Die Industrialisierung weitete sich massiv aus, Großkapitalisten wie J. P. Morgan stiegen auf, mehrere schwere Wirtschaftsrezessionen erschütterten das Land und die amerikanische Arbeiterklasse wuchs gewaltig.
Unter diesen Bedingungen ereigneten sich einige der mutigsten Arbeitskämpfe der US-amerikanischen Geschichte wie der Kampf für den Achtstundentag, die große Streikwelle von 1877 oder der Streik in den Pullmanwerken für Eisenbahnwaggons in Chicago 1894, an dem Debs führend beteiligt war.
Debs gegen die Republikaner und die Demokraten
Debs unterstützte zunächst den volksnahen Demokraten William Jennings Brown, erkannte aber bald, dass die Demokraten keineswegs die Interessen der amerikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter vertraten. So kam er zu dem Schluss, dass diese eine eigene Partei brauchten. Im Jahr 1901 beteiligte er sich an der Gründung der SP. Seine politischen Kampagnen prangerten die Ungleichheit im Kapitalismus und seine Brutalität an und brachten einem wachsenden Publikum die Ideen der Gewerkschaftsbewegung, des Klassenkampfes und des revolutionären Sozialismus näher. In seinen Reden entlarvte er immer wider die Korruptheit des Zweiparteiensystems. » Wie die Demokraten werden auch die Republikaner wieder jeden Muskel in Bewegung setzen, um die Meinungsmacher auf ihre Seite zu bringen, und dazu werden sie allen Einfluss geltend machen, den sie haben«, sagte Debs im Wahlkampf des Jahres 1900.
Die Partei der Wall Street
Überhaupt waren die Demokraten das Lieblingsziel seiner politischen Angriffe, er attackierte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. »Wir könnten uns eine Menge Zeit sparen, wenn wir einfach sagten, dass sie ihren republikanischen Verbündeten ähnlich genug sind, um als ihre Zwillingsbrüder durchzugehen«, bemerkte er 1904 in einer Wahlkampfrede in Indianapolis. »Die ehemalige Partei der ›einfachen Leute‹ wird von der Plutokratie nicht mehr boykottiert, seit sie sich der Wall Street verschrieben hat.«
Im Jahr 1908 behauptete der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes American Federation of Labor (AFL) und Anhänger der Demokraten, Samuel Gompers, die Republikaner würden Debs Wahlkampfzug sponsern. Die SP reagierte, indem sie die Namen und Adressen der 15.000 Spender veröffentlichte, die durch ihre Kleinspenden die 35.000 Dollar für den Zug zusammengebracht hatten.
Die Partei der ›einfachen Leute‹
Die Linken in der Demokratischen Partei forderte Debs auf, sich der SP anzuschließen. »Die radikalen und fortschrittlichen Elemente in der einst Demokratischen Partei sind an den Rand gedrängt worden und müssen ein neues Zuhause finden«, erklärte er 1904.
»In den Augen der konservativen Parteigremien stören sie bloß. Sie treten für die ›einfachen Leute‹ ein und eine derartige Partei können die Konzerne wirklich nicht gebrauchen. Wohin sonst als zur Socialist Party sollen diese fortschrittlichen Menschen gehen? (…) Jeder echte Demokrat sollte der Wall Street danken, dass sie ihn aus einer Partei vertrieben hat, die nur noch dem Namen nach demokratisch ist, aber nicht in der Wirklichkeit.« Debs folgerte: »So viel ist sicher: Herrscht eine dieser beiden Parteien, dann sitzt die kapitalistische Klasse im Sattel und die arbeitende Klasse befindet sich darunter.«
Streit um Sozialismus
Noch während die SP 1912 ihren Wahlerfolg erlebte, verschärften sich die Spannungen zwischen dem linken und dem rechten Flügel der Partei. Seit ihrer Gründung hatte die SP über die Frage gestritten, wie man den Sozialismus erreichen kann und welche Rolle der Partei dabei zufiele. Im Grunde ging es um die Frage: Reform oder Revolution?
Trotz dieser schwelenden Differenzen hielt die SP zusammen. Der rechte Flügel sah in den Wahlerfolgen das letzte und einzige Ziel der Parteiaktivitäten und versuchte sogar, die Partei aus Arbeiterkämpfen herauszuhalten, um für Wähler aus der Mittel- und Oberschicht attraktiv zu werden.
Reform und Revolution
Der linke Flügel hingegen wollte die Arbeiterrevolution. Debs argumentierte, dass die Wahlkämpfe weniger dazu dienen sollten, gewählt zu werden, als Arbeiterinnen und Arbeiter vom Sozialismus und der Notwendigkeit einer sozialistischen Organisation zu überzeugen: »Uns sollte es nur darum gehen, die tatsächlichen Stimmen für den Sozialismus zu zählen, nicht mehr und nicht weniger (…) In unserer Propaganda sollten wir unsere Prinzipien klar formulieren, die Wahrheit furchtlos aussprechen und ohne Schmeicheleien und Beleidigungen allein jene zu überzeugen versuchen, die uns beitreten könnten. Sie müssen wir für unsere Sache gewinnen, indem wir ihnen unsere Mission verständlich machen.«
An anderer Stelle sagte er: »Für den Sozialismus zu stimmen hat mit Sozialismus nicht mehr zu tun als die Speisekarte mit dem Essen. Der Sozialismus muss organisiert, geformt und ausgerüstet werden, und der Ort, wo wir damit beginnen, sind die Industriezweige, in denen die Arbeiter angestellt sind (…) Ohne eine derartige wirtschaftliche Organisierung und die wirtschaftliche Macht, die aus ihr entsteht, und ohne den gemeinsam in der Industrie erworbenen Schliff, mit dem Disziplin und Durchschlagkraft einhergehen, werden die Früchte aller politischen Siege, die die Arbeiter erkämpfen mögen, ihnen wie Staub auf den Lippen zerfallen.«
Spaltung der Sozialistischen Partei
Nach Beginn des Ersten Weltkriegs und dem Sieg der Russischen Revolution im Jahr 1917 konnten die Differenzen innerhalb der SP nicht länger vertuscht werden. Linke Delegierte verließen 1919 den Parteitag in Chicago und gründeten eine Organisation, aus der die Kommunistische Partei der USA hervorgehen sollte. Leider mischte sich Debs nie in die internen Auseinandersetzungen um die Zukunft der Partei ein und blieb der SP auch treu, nachdem der linke Flügel sie verlassen hatte.
Trotzdem haben viele seiner Reden für Sozialisten heute eine ebenso große Bedeutung wie vor hundert Jahren. Debs war ein Sprachrohr für die Anliegen der Arbeiter und spornte sie an, mit der Demokratischen Partei zu brechen und Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit zu fassen, Veränderungen herbeizuführen.
Debs: »Ihr braucht den Kapitalisten nicht.«
»Zu lange schon haben die Arbeiter der Welt auf einen Moses gewartet, der sie aus der Sklaverei führt«, rief er im Jahr 1905 seinem Publikum in New York zu. »Er ist nicht gekommen. Er wird auch nie kommen. Und selbst wenn ich es könnte, würde ich euch nicht herausführen. Denn wenn ihr herausgeführt werden könnt, könnt ihr auch wieder hereingeführt werden. Ich möchte, dass ihr begreift, dass es nichts gibt, das ihr nicht selbst schaffen könnt. Ihr braucht den Kapitalisten nicht. Er würde keine Sekunde existieren ohne euch. Ihr würdet einfach anfangen, ohne ihn zu leben. Ihr erzeugt alles, und er besitzt alles. Und einige von euch denken, wenn es ihn nicht gäbe, hättet ihr keine Arbeit. Aber in Wirklichkeit gibt er euch keine Arbeit. Ihr stellt ihn an, um euch wegzunehmen, was ihr herstellt, und er hält sich getreulich an diese Aufgabe. Wenn ihr das aushalten könnt, kann er es erst recht. Und löst ihr dieses Verhältnis nicht auf, bin ich mir sicher, dass er es auch nicht tun wird. Ihr baut das Auto, er fährt darin. Wenn es euch nicht gäbe, würde er zu Fuß gehen. Und wenn es ihn nicht gäbe, würdet ihr das Auto fahren.«
Zur Person:
Elizabeth Schulte schreibt regelmäßig für die US-amerikanische Website socialistworker.org. Dort ist dieser Text auch zuerst erschienen.
Mehr lesen:
Ira Kipnis: The American Socialist Movement 1897-1912 (Haymarket Books 2005).
Schlagwörter: Demokraten, Demokratische Partei, Geschichte, Hillary Clinton, Republikaner, Sozialismus, Trump, US-Wahl, USA