Wo stehen die USA nach drei Jahren unter Trump? Welche Chancen hat Bernie Sanders und wie geht es weiter für die US-Linke? Sean Larson über ein Land zwischen Krise, Polarisierung und Hoffnung
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Sean Larson ist revolutionärer Sozialist aus Chicago und Herausgeber des »Masses Magazine«.
marx21: Seit drei Jahren sitzt mit Donald Trump nun ein rassistischer und sexistischer Milliardär im Weißen Haus. Wie haben sich die USA seither verändert?
Sean Larson: Die Krise des politischen Systems ist durch die Wahl Trumps für alle Welt offen sichtbar geworden. Die alten, ungeschriebenen Regeln, die für das Amt des US-Präsidenten galten, scheren ihn schlicht nicht. Die Demokratische Opposition im Kongress klagt zwar darüber, aber sie hat auch keine politische Alternative zu bieten. Zugleich ist die rassistische Rhetorik aus Trumps Wahlkampf heute politische Wirklichkeit und Migrantinnen und Migranten werden von ihren Kindern getrennt und in Internierungslager an der Grenze gesteckt.
Gehen die USA stramm nach rechts?
Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sind große Teile der Bevölkerung durch Trumps harten rechten Kurs desillusioniert und viele haben sich nach links radikalisiert. Insbesondere unter jungen Leuten gehört ein gewisser linker Radikalismus immer mehr zum gesunden Menschenverstand. Sozialismus als Antwort auf die Krise erlebt einen seit dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesenen Aufschwung.
Der Aufstieg Trumps ging einher mit einem Erstarken der radikalen Rechten, etwa der neofaschistischen »Alt-Right«-Bewegung sowie einem rasanten Anstieg rassistischer Gewalt. Welchen Einfluss haben Neonazis und andere Rechtsradikale heute?
Die radikale Rechte ist gewachsen, hat sich aber auch verändert. Nach wie vor gibt es organisierte Nazi-Strukturen, aber viele der bekannteren Organisationen aus den Jahren 2016 und 2017 sind wieder zusammengebrochen. Dennoch ist die Zahl rechter Morde in den letzten drei Jahren gegenüber den zwei Jahrzehnten davor deutlich angestiegen.
Haben die Nazis noch Verbindungen ins Weiße Haus, nachdem Steve Bannon von Trump gefeuert wurde?
Ja, Leute aus der ersten Reihe der Trump-Regierung wie Stephen Miller haben mehr oder weniger direkte Verbindungen zu Neonazis. Das ist auch kein Wunder, denn sie vertreten die gleiche extrem rassistische Ideologie. Durch einen Rassisten im Weißen Haus fühlen sich die Nazis in jedem Fall bestärkt und ermutigt.
Krise des US-Imperialismus
Das US-amerikanische Kapital wollte 2016 Hillary Clinton als Präsidentin. Sie erhielt 80 Prozent der Konzernfinanzierung im Präsidentschaftswahlkampf. Doch nach der Wahl Trumps konnten sich die Konzernbosse und Großaktionäre schnell mit dessen Politik anfreunden, was sicherlich auch an den massiven Steuergeschenken lag. Stehen die Herrschenden heute hinter Trump oder wollen sie die »Rückkehr zur Normalität«, etwa unter einem Präsidenten Joe Biden?
Die meisten Sektoren des US-Kapitals wären prinzipiell einer Figur wie Joe Biden gegenüber wohl nicht abgeneigt – also einem verlässlichen Verwalter des US-Kapitalismus. Allerdings hat auch die herrschende Klasse erkannt, dass die Lage heute eine andere ist als noch vor einigen Jahren. Die Krise des US-amerikanischen imperialistischen Projekts tritt immer deutlicher zum Vorschein – das sehen auch die Kapitalisten und verlangen nach neuen Antworten.
Wie äußert sich diese Krise?
Insbesondere im relativen Machtverlust der USA durch den Aufstieg Chinas. Die Regeln der internationalen Beziehungen wurden die letzten siebzig Jahre von den USA bestimmt. Das ändert sich allmählich. Die Ideologie des Freihandels begünstigt seit dem Krisenausbruch 2008 zunehmend das chinesische Wirtschaftsmodell.
Wie reagiert das US-Kapital darauf?
Das hegemoniale Projekt der USA musste sich neu definieren, was Obama mit seiner »Wendung nach Asien« und der »Transpazifischen Partnerschaft« versucht hat. Dies hat aber nicht genug Früchte getragen und nach den halbgescheiterten militärischen Unternehmungen im Nahen Osten war der Weg nach vorne für den US-Imperialismus nicht so klar wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Trump war 2016 noch nicht die bevorzugte Antwort der herrschenden Klasse auf die immer offener zutage tretende Krise des US-Imperialismus. Doch er hat etwas Neues geliefert: einen anderen Umgang mit der neoliberalen Globalisierung, basierend auf wirtschaftlichem Nationalismus und gewaltigen Steuergeschenke für die Kapitalseite.
Trump stellt also eine Antwort auf die Krise und Herausforderungen des US-Imperialismus dar. War sie aus Sicht der Herrschenden erfolgreich?
Nein, sehr erfolgreich war sie auch aus Perspektive des Kapitals nicht. Aber es wurde immer deutlicher, dass das traditionelle politische Establishment auch keine Antwort hat. Im Verlauf der letzten drei Jahre haben große Teile der herrschenden Klasse diese Situation erkannt, sich an Trump angepasst und ihn in gewisser Weise auch unterstützt, wenn auch nicht kritiklos. Sie bleiben wie immer opportunistisch und wären auch einer Figur wie Joe Biden gegenüber aufgeschlossen. Sie können sicher aber auch noch vier fette Jahre unter Trump ertragen.
Trumps Basis und das Impeachment
Die Republikanische Partei scheint sich selbst aufgegeben zu haben und alles auf Trump zu setzen. Ist Trump in der eigenen Partei unumstritten oder gibt es Herausforderer?
Trump ist nahezu unumstritten. Die Republikaner haben sich angesichts der Angriffe der Demokraten geschlossen hinter ihn gestellt. Wenn einzelne Republikaner Trump kritisieren, greift dieser sie offen an. Die Angst, Trumps harte kompromisslose Basis zu verlieren, lässt die Kritiker schnell wieder verstummen.
Kann das laufende Amtsenthebungsverfahren gegen Trump ihm zum Verhängnis werden?
Nein, die Chancen dafür stehen fast bei null. Das Amtsenthebungsverfahren ist eine Scharade, um die Tatsache zu verdecken, dass das Establishment der Demokraten keinen wirklichen Widerstand gegen Trump leistet. Statt Trump für seine menschenverachtende Politik und seinen Rassismus anzugreifen, wollen führende Demokraten wie Nancy Pelosi das Verfahren gegen ihn auf Verletzungen des außenpolitischen Protokolls einschränken.
Die entscheidenden Stimmen für Trumps Sieg kamen aus den krisengeschüttelten Regionen der alten Schwerindustrie, dem »Rust Belt«, wo bei den vorherigen Wahlen noch Obama siegte. Hat Trump in den Augen seiner Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse seine Versprechen erfüllt oder hat sich dort mittlerweile Ernüchterung breitgemacht?
Die Arbeiterstimmen aus dem »Rust Belt« waren durch das besondere Wahlsystem der USA zwar mit ausschlaggebend für Trumps Sieg, doch innerhalb des Trump-Lagers bildet diese Gruppe eine klare Minderheit. In den Augen seiner reichen, weißen Anhängerschaft hat Trump tatsächlich »geliefert«, in den Augen der »Rust Belt«-Arbeiterklasse sehr wahrscheinlich nicht. Ernüchterung? Ja sicher, aber ohne das Vertrauen in eine Alternative ändert das noch nichts.
Streiks und Bewegungen in den USA
Die wachsende Polarisierung in den USA hat sich in den letzten Jahren auch in einem Bewegungsaufschwung ausgedrückt – von den antirassistischen Protesten der »Black Lives Matter«-Bewegung über die Frauenbewegung bis hin zur Klimabewegung. Wo stehen die sozialen Bewegungen heute?
Sie sind in den letzten drei Jahren gewachsen, bleiben aber leider sporadisch und unbeständig. Immer wieder gibt es große, koordinierte Proteste, zum Beispiel in Solidarität mit Migrantinnen und Migranten oder von der Frauenbewegung, es entstehen aber wenig dauerhafte Strukturen. Die sehr jugendlich geprägte Klimabewegung ist da eine Ausnahme. Sie ist mit Sicherheit eines der besten dauerhaften Resultate der Protestwellen der letzten Zeit und der Grad der Organisierung wächst weiter. Viel Energie wird jedoch auch durch die endlosen Wahlkampagnen verbraucht. Das Neue ist aber, dass Bewegungsforderungen wie der »Green New Deal« eine deutlich größere Bühne haben. Die am besten organisierten und mächtigsten Bewegungen sind jedoch die Streikbewegungen.
Die gewaltigen Streiks der Lehrerinnen und Lehrer in mehreren Bundesstaaten haben es auch in Deutschland in die Hauptnachrichten geschafft. Erleben wir einen Aufschwung gewerkschaftlicher und betrieblicher Kämpfe und wie steht es um die US-Gewerkschaftsbewegung generell?
Ja. Die Arbeiterbewegung – wenn auch kleiner als vor vierzig Jahren – ist wieder am Erstarken. Fast eine halbe Million Arbeiterinnen und Arbeiter haben allein im Jahr 2018 gestreikt – so viele wie in keinem anderen Jahr seit Mitte der 1980er Jahre. Flugpersonal, Pflegekräfte, Auto-Arbeiter, High-Tech-Arbeiter, Brauerei-Beschäftigte und viele andere, etwa in der stark gewachsenen »Gig Economy« organisieren sich und streiken.
Haben sich die Gewerkschaften unter Trump politisiert?
Das Bild ist widersprüchlich: Die Führungen der alten großen Gewerkschaften, etwa der United Auto Workers, sind immer noch vollkommen realitätsfremd und agieren sehr zurückhaltend. Aber in einigen Sektoren, in denen bislang viele Kolleginnen und Kollegen noch unorganisiert waren, weht ein frischer Wind. Zudem sind in manchen der alten Gewerkschaften neue Reformbewegungen entstanden und waren teilweise auch erfolgreich. Am weitesten fortgeschritten ist dieser Prozess in den Lehrergewerkschaften, die nicht nur wegen ihrer gesellschaftlichen Rolle sehr mächtig sind, sondern auch sehr politische Streiks führen.
Was für politische Streiks sind das?
In Los Angeles und Chicago haben die Lehrergewerkschaften etwa für den Schutz von undokumentierten Migrantinnen und Migranten gekämpft und gewonnen. Insbesondere in Chicago wirkt die Lehrergewerkschaft als politische Gegenmacht zur Stadtregierung.
Bernie Sanders und die Demokraten
Bei der Demokratischen Partei ist der Vorwahlkampf bereits in vollem Gang und auch in der deutschen Linken richten sich alle Augen auf die Kampagne von Bernie Sanders, der es nach der knappen Niederlage gegen Clinton jetzt noch einmal wissen will. In den Medien wird der Kampf um die Kandidatur der Demokraten jedoch meist als Zweikampf zwischen Joe Biden und Elizabeth Warren dargestellt. Hat Sanders noch Chancen?
Es gibt eine systematische Kampagne in den US-Medien gegen Bernie Sanders. Deshalb geben sie ein extrem verzerrtes Bild wieder. Sogar die Fälschung von Umfrageergebnissen ist keine Seltenheit. Tatsächlich hat Sanders nach wie vor Chancen, aber vieles spricht dagegen, dass er gewinnt, so dass ich die Chance als gering einschätzen würde.
Was spricht gegen Sanders?
Seine Chancen sind nicht deshalb gering, weil er unpopulär wäre. Im Gegenteil: Er ist momentan der populärste Politiker in den USA. Aber das versammelte US-Kapital wird geschlossen alle Tricks und Hetzkampagnen anwenden, um seine Kandidatur zu verhindern. Der Widerstand ist bereits jetzt riesig. Das gilt innerhalb der Demokratischen Partei, aber auch für die Medien, die Konzerne, den Staatsapparat – im Grunde für die gesamte herrschende Klasse und das politische und gesellschaftliche Establishment. Die Wettbewerbsbedingungen für die Kandidatinnen und Kandidaten sind daher alles andere als gleich.
Joe Biden gilt als Kandidat des politischen Establishments der Demokraten. Mit Elizabeth Warren scheint nun aber noch eine weitere linke Kandidatin das Bewerberfeld von hinten aufzuräumen. Sie fordert eine Reichensteuer, die Erhöhung des Mindestlohns, mehr Macht für die Gewerkschaften, mehr Regulierung der Banken, den Erlass von Studienschulden, kostenlose höhere Bildung sowie eine staatliche Krankenkasse für alle. Das klingt nicht schlecht. Wo liegen die Unterschiede zu Sanders?
Elizabeth Warren war einst strikte Befürworterin der freien Marktwirtschaft und bis Mitte der 1990er Jahre bei den Republikanern aktiv. Auch heute noch bezeichnet sie sich selbst als »kapitalistisch bis auf die Knochen«. Aber sie ist scharfsinnig und kann auch sehr gut links reden. Jetzt sieht sie ihre Chance, auf einem »linken Ticket« an die Präsidentschaftsnominierung zu kommen. Aber jeder ihrer konkreten Vorschläge lässt riesige Hintertüren auf.
Hast Du ein Beispiel?
Nehmen wir die Kernfrage in der Debatte bei den Demokraten: »Medicare for All«, die staatliche Krankenkasse für alle. Zuerst war Warren dafür. Dann hat sie einen sehr komplizierten Vorschlag für die Finanzierung präsentiert, den kaum jemand versteht und der zahlreiche Schlupflöcher enthält. Schließlich erklärte sie, sie könne mit der Durchsetzung von »Medicare for All« erst drei Jahre nach der Wahl beginnen, also ganz am Ende ihrer Amtszeit. Spätestens an der Stelle weiß dann auch die Wall Street, dass sie so einen Vorschlag nicht zu fürchten braucht.
Also stellt Warren keine Bedrohung für die Kapitalinteressen dar?
Warren signalisiert den Banken und Konzernen, die die Demokratische Partei finanzieren und verwalten, dass sie keine Gefahr für sie darstellt. Daraus kann man ihre Loyalitäten ableiten.
Auf Sanders trifft das nicht zu?
Nein, Sanders sagt offen, dass er Politik gegen die Banken und Konzerne machen will. Von ihm kommen keine Friedensangebote an das Kapital.
Könnte Warren ein mehrheitsfähiger Kompromiss zwischen dem moderateren Establishment und der in den vergangenen Jahren nach links gerückten Parteibasis sein?
Absolut. Aufgrund der Feindlichkeit der herrschenden Klasse gegen Sanders, ist es gut möglich, dass Warren die linke Energie für eine Establishment-Kampagne kooptiert. Sie wäre Idealkandidatin für ein weitsichtiges Kapital – wenn wir so etwas in den USA hätten. Auf der anderen Seite können viele Wählerinnen und Wähler die Klassenpolitik von Sanders nicht so einfach von Warrens Phrasen unterscheiden. Die Differenzen erscheinen den normalen linken Wählerinnen und Wählern nicht so groß, wie sie tatsächlich sind. Dennoch gibt es auch Unterschiede in der politischen Basis von Sanders und Warren. Sanders’ Basis liegt klar in der Arbeiterklasse. Warrens Unterstützerinnen und Unterstützer kommen hingegen eher aus dem Bildungsbürgertum der Ostküste und den liberalen Mittelschichten.
Linksruck vs. Establishment
Offensichtlich haben Sanders und die Bewegung hinter seiner Kampagne die Demokratische Partei gewaltig von links unter Druck gesetzt. Gleichzeitig sind alle wichtigen Posten der Demokraten noch immer mit Personen des neoliberalen Establishments besetzt. Kann der von ihnen kontrollierte Parteiapparat die sich immer deutlicher abzeichnende Linkswende der Basis nochmals torpedieren?
Ich befürchte, das ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Wenn es bis zum Demokratischen Kongress Mitte Juli keinen eindeutigen Sieger gibt, wonach es momentan aussieht, entscheiden die gleichen 765 »Superdelegierten«, die bereits 2016 Sanders’ Kandidatur vereitelt haben.
Wer sind diese »Superdelegierten«?
Aktive und ehemalige hochrangige Mitglieder der Demokratischen Partei, unter anderem die demokratischen Kongressmitglieder und Gouverneure. Im Gegensatz zu den bei den Vorwahlen gewählten Delegierten sind sie keinem Kandidaten verpflichtet.
Nicht nur in Form von Sanders scheint eine radikale, linke Bewegung in der US-Politik angekommen zu sein: Alexandria Ocasio-Cortez ist in kürzester Zeit zu einem der bekanntesten neuen Gesichter der Demokraten geworden. Eine prominente Forderung von ihr, die auch von Sanders aufgegriffen wurde, ist der »Green New Deal«. Worum geht es dabei? Ein radikales sozial-ökologisches Reformprogramm? Oder steht dahinter die Vorstellung, dass der Kapitalismus grün wird, um neues Wachstum zu schaffen, so wie es schon Obama gepredigt hat oder wie es in Deutschland etwa die Grünen tun?
Der »Green New Deal« ist weniger eine konkrete Forderung, sondern ein Rahmen, in dem viele Ideen und Vorschläge für ökologische, antirassistische und wirtschaftliche Gerechtigkeit zusammenkommen. Die Grundidee dahinter stützt sich nicht nur auf Alexandria Ocasio-Cortez, sondern auch auf eine Organisation namens »Sunrise«, in der sich insbesondere junge Leute für Klimagerechtigkeit organisieren. Ein »Green New Deal« wie er hier diskutiert wird, lässt sich nicht mit Obamas Konzepten oder denen der deutschen Grünen in einen Topf werfen. Vielleicht könnte man das Konzept als visionären Linkskeynesianismus beschreiben, was nach vierzig Jahren Neoliberalismus schon ziemlich neu und mutig wirkt. Aber natürlich ist auch in der Klimabewegung umstritten, was genau mit »Green New Deal« gemeint ist und wieviel Antikapitalismus darin steckt.
Auf jeden Fall haben Sanders und die Bewegung hinter ihm eines erreicht: Der Begriff Sozialismus ist wieder Teil des politischen Diskurses der USA. Böse Zungen behaupten jedoch, was in den USA Sozialismus genannt wird und sich am linken Flügel der Demokraten ansiedelt, entspricht in Europa der systemtreuen Sozialdemokratie. Haben sie Recht?
Nein, das ist mit Sicherheit nicht das Gleiche. Sanders ist kein revolutionärer Linker, aber ihn mit der heutigen Sozialdemokratie in Europa zu vergleichen, wäre absurd. Seine Kampagne ist eine Wahlkampagne im Rahmen einer Partei, die durch und durch kapitalistisch ist, aber sie basiert auf linker Klassenpolitik.
Sanders’ Stärken und Schwächen
Wo siehst Du Sanders’ politische Schwächen?
Sanders’ größte Schwäche ist seine Haltung zum US-Imperialismus. Zwar spielt das in seiner Kampagne keine zentrale Rolle und seine Positionen sind besser als die der anderen Demokraten, aber auch Sanders verbleibt innerhalb des Rahmens des US-Imperialismus. Er will sich in der Außenpolitik mehr auf Diplomatie stützen, fordert aber dennoch eine starke Landesverteidigung. Er hat auch als Kongressabgeordneter ziemlich konsequent für die Erhöhung der Militärausgaben gestimmt. Wie alle anderen Demokraten unterstützt er Israel als imperialistischen Außenposten der USA im Nahen Osten. Aus protektionistischen Gründen unterstützt er auch den Handelskrieg gegen China.
Eine von Sanders’ Stärken ist hingegen, dass er nicht nur zu seiner Wahl aufruft, sondern seine Ansprache stets auch einen Appell zur Aktivität und Selbstermächtigung enthält. Ist das nur ein rhetorisches Mittel oder stützt sich seine Kampagne tatsächlich auf soziale Bewegungen, gewerkschaftliche Kämpfe und die Organisierung von linker Gegenmacht?
Das ist kein rhetorisches Mittel – Sanders meint das ernst.
Als er seine erneute Kandidatur verkündete, schrieb er auf Twitter, er wolle eine »nie dagewesene historische Graswurzelbewegung« in Gang setzen. Ist der Anspruch in Erfüllung gegangen?
Die Bewegung ist beeindruckend. Sanders begeistert und mobilisiert Millionen. Seine Anhängerinnen und Anhänger, insbesondere bei den Democratic Socialists of America (DSA), sind sehr engagiert. Die Frage ist, wie aus einer Wahlkampagne dauerhafte Strukturen entstehen können, in denen linke Gegenmacht über den Wahltag hinaus aufgebaut werden kann.
Die US-Linke hinter Sanders
Welche Bewegungen und Organisationen stehen hinter seiner Kampagne?
Insbesondere einige Lehrergewerkschaften, die große Gewerkschaft der Krankenpflegekräfte, die DSA sowie zahllose Einzelaktivisten.
Wer ist die DSA?
Die DSA ist heute die größte sozialistische Organisation in den USA mit etwa 56.000 Mitgliedern.
Wofür steht sie politisch?
Die DSA hat keine einheitliche Ideologie und die einzelnen Ortsgruppen machen sehr unterschiedliche Sachen.
Kannst Du uns einen Überblick über die verschiedenen politischen Flügel oder Strömungen innerhalb der DSA geben?
Obwohl in ihr viele verschiedene politische Ideologien und Traditionen zusammenkommen – Anarchismus, Maoismus, Sozialdemokratie, Stalinismus, revolutionärer Sozialismus –, gibt es nur wenige organisierte Strömungen. Die zwei bedeutendsten sind »Bread and Roses« und »Build«, aber beide haben nur einige Hundert Mitglieder. Hinter »Bread and Roses« stehen die Macherinnen und Macher des Jacobin-Magazins. Sie prägen wesentlich das öffentliche Gesicht der DSA.
Für welche politische Ausrichtungen stehen »Bread and Roses« und »Build«?
»Bread and Roses« will für Bernie und andere linke Politikerinnen und Politiker innerhalb der Demokratischen Partei Wahlkampagnen organisieren, Klassenkämpfe am Arbeitsplatz aufbauen und unterstützen und politische Bildung auf nationaler Ebene fördern. »Build« sieht sich selbst nicht als organisierte Strömung. Ideologisch sind sie eher unpolitisch. Strategisch haben sie sich dem »Basisaufbau« verschrieben und wollen Ressourcen stärker auf lokaler Ebene verwenden, anstatt nationale Kampagnen aufzubauen. Viele der Leute von »Build« sind auch Mitglieder des »Libertarian Socialist Caucus«, der die nationale Leitung der DSA kritisiert.
Perspektiven der Linken in den USA
Nach der Wahl Trumps hast Du in einem Artikel für unser Magazin die Demokratische Partei als »Hospiz jeder Hoffnung auf Veränderung« bezeichnet. Würde das auch noch im Falle eines Sieges von Sanders um die Präsidentschaftskandidatur gelten?
Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass Sanders alle Hindernisse überwindet und die Präsidentschaftskandidatur gewinnt, würden die mächtigen politischen und finanziellen Strukturen der Demokratischen Partei nicht aufhören, Widerstand gegen ihn zu leisten. Die Hoffnungen, die ein Sieg von Sanders wecken würde, könnten nicht innerhalb dieser Strukturen blühen, sondern nur gegen sie. Wenn die Träger dieser Hoffnung – die Millionen Jugendlichen, Demonstrierenden, und Linkswählerinnen und -wähler – an die Demokratische Partei gekettet bleiben, wird die Hoffnung früher oder später sterben.
Was ist die Alternative zum Aufbau von Wahlkampagnen im Rahmen der Demokratischen Partei?
Ob mit Demokratischer Kampagne oder ohne: Es müssen dauerhafte und unabhängige politische Strukturen aufgebaut werden. Dazu muss über den Wahlzyklus hinaus gedacht werden. Wir brauchen eine selbstständige sozialistische Kraft in den USA, die verlässlich für linke Politik kämpft. Die gute Nachricht ist: Wir haben nun eine einigermaßen organisierte, wenn auch kleine Linke, die beginnen könnte, selbstständig zu agieren. Darauf gilt es aufzubauen.
Das Interview führte Martin Haller
Foto: Paulann_Egelhoff
Schlagwörter: Sanders, Trump, USA