Es ist millionenfacher Betrug: Volkswagen hat die Abgastests von Dieselmotoren manipuliert. Diese Vorgänge sind genauso skandalös wie alltäglich, meint Winfried Wolf.
Im VW-Skandal gibt es immer neue Steigerungen. Der Konzern nahm Ende September eine Rückstellung in Höhe von 6 Milliarden Euro vor, um die Kosten für den Skandal abzudecken. Mitte Oktober war die Rede von Gesamtkosten in Höhe von »bis zu 42 Milliarden Euro«. Sollte dieser Betrag tatsächlich fällig werden, so könnte dies selbst einen Weltkonzern wie VW existenziell gefährden.
Blicken wir etwas hinter die Kulissen, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit hin und hergeschoben werden, mit dem Effekt, dass die Sicht auf den Kern der Dinge versperrt wird. Dies soll auf drei Ebenen erfolgen: erstens hinsichtlich des Grundcharakters des Vorgangs; zweitens die Behauptung betreffend, die »starre Hierarchie« bei VW sei »schuld« am Skandal; und drittens hinsichtlich des privaten Großaktionärs bei VW.
So speziell ist der Skandal bei VW nicht
Die Führung des Volkswagenkonzerns musste eingestehen, weltweit bei rund elf Millionen Diesel-Pkw der Konzernmarken VW, Audi, Seat und Skoda eine spezifische Software zur »Abgas-Nachbehandlung« so programmiert zu haben, dass deren Motoren bei Schadstoffmessungen auf dem Prüfstand auf einen spezifischen Fahrmodus schalten. In diesem Testbetriebmodus werden deutlich niedrigere Abgasemissionen gemessen als im normalen Fahrbetrieb.
So neu ist die Grundidee nicht. Als am 3. März 2009 in Köln das Historische Archiv in einer gewaltigen U-Bahn-Baugrube versank, war der zugrundeliegende Skandal nur etwas banaler. Bis zu 80 Prozent der Stahlbewehrung, die zur Sicherung der Grube erforderlich gewesen wäre, waren nicht verbaut worden – zum profitablen Frommen der beteiligten Baufirmen.
Doch auch der VW-Abgasskandal ist so speziell nicht. Wer einen neuen Pkw kauft, weiß, dass das Auto mindestens 25 Prozent, oft 50 Prozent mehr Sprit verbraucht als offiziell angegeben. Aber auch die spezifische Betrugssoftware von VW dürfte eher langweiliger Standard als VW-Innovation sein. So konnte man vor eineinhalb Jahren im Blatt »Autobild« lesen: »Um den Verbrauch [eines Autos] auf dem Prüfstand zu messen, muss vorher der Fahrwiderstand ermittelt werden. Dazu werden Fugen abgeklebt, Spiegel demontiert (…) Klimaanlagen werden ausgebaut (…) Dazu erkennen Steuergeräte, wenn eine Messfahrt vorliegt. Die Autos sind inzwischen auf diese Minimal-Last hin konstruiert« (14. Februar 2014).
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das Umweltinstitut International Council on Clean Transportation (ICCT), das den großangelegten VW-Betrug aufdeckte, seit Frühjahr 2014 den Diesel-Pkw-Betrug in öffentlich nachvollziehbarer Form dokumentierte (beispielsweise mit Berichten in der »Süddeutschen Zeitung« vom 30. Mai und 31. Dezember 2014). Damals interessierte sich niemand für diese Botschaften. Eben weil man davon ausging, dass es sich um den klassisch kapitalistischen Betrug handeln würde. Heute interessiert sich auch – bislang – niemand dafür, dass die ICCT-Forscher John German und Peter Mock im Oktober 2014 explizit darauf verwiesen, dass bei ihren Untersuchungen »die Abgaswerte von VW (…) nicht einmal die schlimmsten« waren (Süddeutsche Zeitung, 26. September 2015).
Auch ist nachgewiesen, dass die Bundesregierung zugibt, seit rund einem Jahr darüber informiert zu sein, dass die realen Abgasemissionen von Diesel-Pkw deutscher Hersteller deutlich über den offiziellen Grenzwerten liegen. In einem an die Europäische Kommission gerichteten Schreiben der Berliner Regierung vom 18. August 2015 – also vor Dieselgate! – heißt es: »Belastbare Indizien, dass die realen durchschnittlichen NOx-Emissionen auch von derzeit auf den Markt kommenden Euro-6-Diesel-Pkw erheblich höher sind als der einzuhaltende Grenzwert (80 mg/km), liegen erst seit Herbst 2014 vor.«
Es geht in diesem Schreiben ersichtlich nicht um die Modelle eines spezifischen Autokonzerns. Laut diesem Brief der deutschen Regierung an die EU-Oberen lag der gemessene NOx-Schadstoffausstoß bei den zur Debatte stehenden Diesel-Pkw im Durchschnitt sechsmal höher als nach Grenzwert gestattet. Das entspricht dem unteren Wert dessen, was in der ICCT-Studie für die VW-Diesel-Modelle ermittelt wurde.
Bilanz: Es mag bei VW-Dieselgate Besonderheiten geben. Grundsätzlich handelt es sich jedoch um den Normalfall kapitalistischen Betrugs zur Erzielung maximalen Profitrats.
Strikte Hierarchie ist die Basis
In aller Munde ist jetzt, der VW-Konzern sei zu starr-hierarchisch organisiert. Inzwischen werden Lockerungsübungen empfohlen. Der neue VW-Chef Matthias Müller formulierte am 15. Oktober vor hunderten VW-Managern in Leipzig: »Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass wir künftig anders, nämlich auf Augenhöhe zusammenarbeiten.«
Das ist natürlich lächerlich. Aus zwei Gründen: Zum einen, weil gleichzeitig argumentiert wird, die Konzernspitze – der Ex-VW-Chef Winterkorn, der Ex-Porsche Chef Müller, inzwischen neuer VW-Chef, der Ex-VW-Finanzchef Pötsch, inzwischen neuer VW-Aufsichtsratschef – hätte von der Installation der Betrugssoftware nichts gewusst. Das sei irgendeine subalterne Gruppe von »Ingenieuren« gewesen. Was nun, mag man fragen? Hieß es nicht immer, Winterkorn und Piëch würden »jede Schraube in einem Pkw« kennen – also auch die bewusste Software-Stellschraube?
Die Forderung nach einem Abbau von Hierarchie und einem Management »auf Augenhöhe« ist dann vor allem deshalb lächerlich, weil sich Kapitalismus und Demokratie grundsätzlich ausschließen. Alle großen Konzerne und insbesondere die erfolgreichen Autokonzerne sind im Endeffekt extrem hierarchisch aufgebaut – auch wenn das gelegentlich durch »Gruppenarbeit« und »flache Hierarchien« (auf mittleren und unteren Ebenen) verschleiert wird.
Der Ex-Daimler-Chef Jürgen Schrempp herrschte ebenso diktatorisch wie es Piëch bei VW tat und weiterhin tut (siehe unten). Der aktuelle Daimler-Chef Dieter Zetsche agiert vergleichbar, wenn auch eher smart. Sergio Marchionne ist ein Feudalfürst im Fiat-Chrysler-Konzern. Eine vergleichbare Konzerndiktatur gibt es bei Toyota. Geradezu extrem hierarchisch sind die Konzernstrukturen bei Suzuki. Und wenn einmal ein Topmanager aus der Schule plaudert, wie konkret die großen Entscheidungen in Konzernen fallen, dann klingt das so:
»Eines Tages befahl mir Henry, einen leitenden Angestellten zu entlassen, der seiner Ansicht nach ›eine Schwuchtel‹ war. ›Das ist doch lächerlich‹, sagte ich. ›Der Mann ist ein guter Freund von mir. Er ist verheiratet und hat ein Kind.‹ ›Wirf ihn raus‹, wiederholte Henry (…) ›Schau ihn doch an. Seine Hosen sind zu eng. Er ist schwul (…) Er hat ein feminines Gehabe.‹ Ich musste schließlich einen guten Freund degradieren.» So der Bericht von Lee A. Iacocca, dem langjährigen Chrysler-Boss, in seinem Buch »Eine amerikanische Karriere« über seine Zeit bei Ford. Der zitierte »Henry« Ford galt damals wie heute als Idealtyp eines erfolgreichen Unternehmers.
Bilanz: Strikte Hierarchie ist die Basis des Kapitalverhältnisses. Demokratie und Kapitalherrschaft sind antagonistische Gegensätze.
Piëch konnte seine Herrschaft bei VW zurückgewinnen
Das Kapitalverhältnis ist letzten Endes auf Privateigentum zurückzuführen. Das gilt auch für den aktuellen Kapitalismus, der erheblich vom Finanzsektor bestimmten wird. Auch Finanzkonzerne wie Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften und »klassische« Finanzinstitute sind letzten Endes in der Hand einzelner Privatleute oder Familien oder Gruppen von privaten Kapitaleignern. Bei VW liegt der Fall nochmals eindeutiger und gewissermaßen »persönlicher«.
Bereits vor Dieselgate kontrollierte Ferdinand Piëch zusammen mit seinem Vetter Wolfgang Porsche etwas mehr als 50 Prozent des VW-Kapitals. Nun verlor Piëch im April 2015 einen konzerninternen Machtkampf. Scheinbar, muss man hinzufügen. Damals schrieb Piëchs Biograf Wolfgang Fürweger: »Es wird einer auf der Strecke bleiben – und das wird nicht Ferdinand Piëch sein.«
Tatsächlich fand in den letzten Wochen das statt, was Piëch im April verlangt hatte: Winterkorn wurde gefeuert; der ehemalige Porsche-Chef Müller wurde VW-Chef. Sofort nach Winterkorns Abgang »ließ sich Ferdinand Piëch direkt nach Wolfsburg fahren«, um dort »zahlreiche Gespräche über die Zukunft des Konzerns« zu führen, schrieb »Bild« am 28. September. Dabei hat Piëch aktuell im Konzern kein einziges Amt. Er ist »nur« und vor allem der entscheidende Großaktionär.
Bilanz: Mit Dieselgate konnte Piëch seine jahrzehntelange Herrschaft bei VW auch im operativen Geschäft zurückgewinnen. Woran sich die Frage anschließt: Könnte es gar Piëch gewesen sein, der zum neuen VW-Großskandal beitrug? Vordergründig hieße das, dass er sich damit ins eigene Fleisch geschnitten hätte, da die VW-Aktien massiv an Wert verloren. Es sei denn, Piëch hätte in der neuen VW-Krise selbst als Käufer agiert.
Just so war es. Ende September – also als nach Dieselgate die VW-Aktien massiv an Wert verloren hatten! – stockten Piëch und Porsche ihren »Anteil an Europa größtem Autobauer Volkswagen weiter auf«, wie die »Stuttgarter Zeitung« am 28. September berichtet. Sie erwarben vom japanischen Suzuki-Konzern 1,5 Prozent Stammaktien der Volkswagen AG (Suzuki und VW waren längere Zeit verflochten). Piëch und Porsche konnten dabei den Deal »außerbörslich« realisieren, das Aktienpaket also direkt von Suzuki erwerben – womit sie sich nicht des Insiderhandels schuldig machen.
Die Beteiligung der Porsche Holding, die weitgehend von Ferdinand Piëch und seinem Vetter Wolfgang Porsche kontrolliert wird, am Weltkonzern VW stieg ausgerechnet mit Dieselgate auf 52,5 Prozent der Stammaktien. Es gibt keinen anderen deutschen Großkonzern, in dem die Macht von Einzelpersonen derart groß ist wie bei VW. Auch dies ist ein Ergebnis des Großskandals.
Der Autor: Winfried Wolf ist Chefredakteur der Zeitschrift »Lunapark21«. Zusammen mit Bernhard Knierim hat er das Buch »Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform« (Schmetterling-Verlag 2014) veröffentlicht.
Dieser Artikel erschien erstmals in der »SoZ – Sozialistische Zeitung« (November 2015). Wir danken Redaktion und Autor für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.
Foto: xddorox
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