Erkin Erdoğan über die Niederlage der AKP, den angeschlagenen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die Zukunftsperspektiven für die Linke. Aus dem Englischen von David Paenson
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Die HDP, Demokratische Partei der Völker, übersprang mit 13.1 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen mit großem Abstand die 10 Prozent Hürde. Sie bekommt nach den vorläufigen Ergebnissen 80 Sitze im neuen Parlament – von insgesamt 550. Das zeigt die radikale Linksverschiebung der Gesellschaft. Zugleich büßte die regierende AKP, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, ihre absolute Parlamentsmehrheit ein. Ihre 13-jährige Alleinherrschaft ist zu Ende. Mit 40,8 Prozent Stimmenanteil – einem Verlust von 9 Prozent verglichen mit den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2011 – und 254 Parlamentssitzen wird der bisherige Premierminister Davutoğlu einen Koalitionspartner suchen müssen. Wahrscheinlich ist aber, dass er unter dem Vorzeichen baldiger Neuwahlen zunächst eine AKP-Minderheitsregierung anführt.
Die Niederlage der AKP
Das war die erste Wahlniederlage der AKP seit ihrer Gründung im Jahr 2001. Ihr zentrales Wahlversprechen war eine Verfassungsänderung, die Präsident Erdoğan mit starker Exekutivmacht ausgestattet hätte. Recep Tayyip Erdoğan hatte mit seiner Teilnahme an Wahlkundgebungen der AKP landauf landab, trotz grundgesetzlicher Verpflichtung als Präsident zu Neutralität und Unvoreingenommenheit, seinen Anhängern klar signalisiert, dass er in seinem Kampf um mehr Macht zu allem bereit sei.
Sein Stimmenverlust ist ein deutliches Zeichen, dass Millionen AKP-Wähler mit diesem Kurs nicht einverstanden waren. Oppositionsparteien konnten die Menschen davon überzeugen, dass Erdoğans zunehmend autoritäre Tendenzen in den letzten Jahren dem demokratischen Leben im Land schaden.
Die Politik der AKP-Regierung in Bezug auf Syrien und Rojava schlug sich in den Ergebnissen nieder. Erdoğan verleumdete den Widerstand und beschimpfte die kurdischen Kämpfer von Kobane als Terroristen. Viele Kurden verziehen ihm das nicht. Während die AKP in vielen kurdischen Städten die Hälfte ihres Stimmenanteils verlor, konnte die HDP verglichen mit früheren Wahlgängen deutlich dazugewinnen.
Die neoliberale Agenda der AKP-Regierung wurde in den letzten Jahren immer offener hinterfragt. Der allgemeine Wirtschaftsaufschwung ging mit unfairen Löhnen, einer ungleichen Vermögensverteilung und einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einher. 311 Bergarbeiter der Stadt Soma verloren letztes Jahr ihr Leben aufgrund der Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und der von der AKP-Regierung forcierten Vergabepraxis an Subunternehmen. Die sinkenden Preise für Kohle aus Soma wurden von AKP-Ministern als Erfolgsstory der Marktliberalisierung gepriesen – bis der Skandal sie einholte. Durchschnittlich verlieren täglich fünf Arbeiter ihr Leben aufgrund mangelnder Sicherheit.
Taktik der Polarisierung
Die AKP benötigt mehr als 330 Sitze, um die Verfassung ändern zu können. Trotz ihres Stimmenrückgangs bestand – dank dem skurrilen Wahlsystem und der seit dem Militärputsch von 1980 geltenden landesweiten 10-Prozenthürde – die Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen. Diese hohe Hürde zielte schon immer darauf ab, die linke und kurdische Vertretung im Parlament klein zu halten. Wenn die HDP sie nicht überwunden hätte, hätte das System der AKP – als zweitstärksten Partei in den meisten kurdischen Provinzen – wiedermal in die Hände gespielt. Daher Erdoğans Taktik der Polarisierung des Wahlkampfs mit seiner Anschuldigung, die HDP stehe im Bund mit dem Terror. Er zog alle Hassregister gegen einzelne HDP-Mitglieder und nicht-sunnitische religiöse Minderheiten, die in der HDP vertreten sein. Damit ebnete er den Weg für 160 Übergriffe von Faschisten und Nationalisten auf Büros der HDP. Keiner der Angreifer wurde verhaftet oder vor Gericht gestellt. Eine Großkundgebung der HDP mit hunderttausenden Teilnehmern wurde zum Ziel eines Bombenanschlags, bei dem fünf Menschen starben und hunderte verletzt wurden. Auch hier blieben die Täter im Dunkeln.
Vor diesem Hintergrund gab es berechtigte Befürchtungen seitens der Oppositionsparteien, die AKP könnte wieder die Wahlen im großen Stil manipulieren wie in der Vergangenheit auch. Politische Parteien, NGOs und internationale Organisationen beobachteten die Wahlen allerdings sehr genau, so dass es diesmal, mit Ausnahme kleinerer Unregelmäßigkeiten, nicht dazu kam.
Ein großartiger Wahlsieg für die HDP
Die Wahlkampagne der HDP war in jeder Hinsicht gelungen. Die Kandidatenliste spiegelte die Pluralität und Vielfalt der Parteibasis wider: Aleviten, Sunniten, Armenier, Jesiden, Araber, Umweltschützer, LGBT-Aktivisten, Sozialisten und viele andere missachtete Gruppierungen waren vertreten. Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzende der HDP, zog mit seinem humorvollen Stil, seiner klaren radikal-linken Argumentation zu vielen schwierigen Themen und seiner Entschlossenheit viel Aufmerksamkeit auf sich. Er zeigte viel Geduld bei der Überwindung von Vorurteilen, die die Nationalisten immer wieder zu schüren versuchten. In seiner Rede nach den Wahlen sagte er: »Ab jetzt hat die Debatte um die Präsidentschaft, über die Diktatur, ein Ende. Die Türkei hat kurz vor dem Abgrund kehrtgemacht.«
Innerhalb von nur einem Jahr konnte die HDP ihre Unterstützung von 6,29 Prozent auf 13,1 Prozent verdoppeln. Bei den Kommunalwahlen im März 2014, bei denen die kurdischen Parteien gewöhnlich am besten abschneiden, errang sie 2,6 Millionen Stimmen. Bei den Präsidentschaftswahlen keine fünf Monate später, im August 2014, bekam Selahattin Demirtaş vier Millionen Stimmen. Die HDP konnte diesen Trend fortsetzen und ihren Stimmenanteil nochmals um die Hälfte auf diesmal 6,1 Millionen Stimmen erhöhen. Das belegt die erdrutschartige, gesellschaftsweite Entwicklung radikal-linker Politik.
Wer ist die HDP?
Die HDP wurde erst 2012 als breites Bündnis der kurdischen Befreiungsbewegung, zahlreicher linker Organisationen und sozialer Bewegungen gegründet. Ihr Programm ist inspiriert von demokratisch-sozialistischen, antikapitalistischen Werten. Zentrale Forderungen sind wirtschaftliche und soziale Rechte für die Arbeiterklasse, Gleichbehandlung von religiösen und ethnischen Minderheiten, Gendergleichheit und Schutz der Umwelt. Die Wurzeln der HDP lassen sich auf die Gezi-Proteste und die kurdische Befreiungsbewegung zurückverfolgen. Viele Menschen sehen in der HDP die türkische Variante von Syriza und Podemos.
Der Stimmenzuwachs für die HDP war nicht auf die kurdischen Regionen begrenzt. Auch im Westen, beispielsweise in der kemalistisch dominierten Stadt Izmir, erzielte sie hohe Gewinne. Unterdrückte Minderheiten und benachteiligte Gruppen in allen Regionen stimmten für die HDP. In seiner Rede wies Demirtaş darauf hin: »Es war ein Sieg der ArbeiterInnen, der Arbeitslosen, der Dorfbewohner, der Bauern. Es ist ein Sieg der Linken.«
Wer stimmte für die HDP?
Der Stimmenzuwachs speiste sich aus drei Quellen. Zunächst waren es ehemalige AKP-Wähler in den kurdischen Gemeinschaften, die Erdoğans nationalistische Tendenzen, die den Friedensprozess mit Öcalan behinderten, satt hatten. Dann waren es linke, sozialdemokratische Kreise der türkischen Arbeiterklasse und unter den Aleviten, die traditionell CHP wählen. Die dritte Kategorie besteht aus besorgten Bürgern, die aus taktischen Gründen der HDP ihre Stimme gaben, um eine Festigung der AKP-Herrschaft zu verhindern. Der HDP-Führung gelang es, die breite Sympathie, die sie quer durch die Gesellschaft genießt, auf kluge Weise in Stimmen umzumünzen.
Geringer Zuwachs bei der MHP, Stagnation der CHP
Die faschistische MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung, konnte ihren Stimmenanteil von 13,01 Prozent auf 16,28 Prozent leicht erhöhen. Sie speist sich wohl aus Proteststimmen konservativer AKP-Anhänger. Die CHP, Republikanische Volkspartei, konnte ihre 25 Prozent Basis verteidigen. Mit 85 Prozent war die Wahlbeteiligung die höchste seit langer Zeit.
Türkei: Zukunftsperspektiven für die Linke
Gegenwärtig sieht es aus Sicht der herrschenden Klasse nach einer Pattsituation im Parlament aus. Keine der vertretenen Parteien möchte den kleinen Koalitionspartner der AKP spielen. Eine alternative CHP-MHP-Regierung scheint keine Option zu sein. Wahrscheinlicher ist eine Minderheitsregierung der AKP mit der Aussicht auf baldige Neuwahlen.
Die HDP legte schon vor den Wahlen ihre Strategie für die Zeit danach auf den Tisch. Sie bleibt in der Opposition, lehnt Gespräche mit der AKP ab und tritt für baldige Neuwahlen ein. Die Parlamentsfraktion wird für die sozialen Bewegungen sprechen und die Forderungen der unterdrückten Gemeinschaften vertreten. HDP hat das Potenzial, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten. Es war das erste Mal, dass türkische Bürger im Ausland in den Konsulaten ihre Stimme abgeben konnten. Mit 20,41 Prozent der Stimmen kam die HDP hier an zweiter Stelle. In vielen Städten Europas wurden Ortsgruppen der HDP gegründet, um die Wahlkampagne durchzuführen. Sie werden sich weiterhin organisieren und neue Anhänger gewinnen in Vorbereitung auf mögliche Neuwahlen in absehbarer Zukunft. Jetzt ist die Zeit gekommen für Frieden, Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität in der Türkei. Die Zeit für die Linke und die HDP ist eingeläutet.
Foto: Oğuz Demirkapı
English Version
Turkish elections: A breakthrough result for HDP
HDP, Peoples’ Democratic Party, demolished the 10% threshold by getting 13.1% of the votes in the general elections of Turkey. HDP has 80 seats out of 550 according to the preliminary results. This indicates a huge shift in the society to radical left politics. Besides the breakthrough result of HDP, governing party AKP lost its absolute majority in the parliament. Hence, its rule of the last 13 years came to an end. Former Prime Minister Davutoğlu will need a coalition partner in order to form a new government with 40.8% of the votes and 254 seats (9% decline compared to last general elections). Another strong option is that there will be a minority government of AKP with the condition of early elections.
Defeat of AKP
This was the first election defeat of AKP (Justice and Development Party) since its foundation in 2001. The prominent election promise of the ruling party was to provide a stronger executive position to President Erdoğan by changing the political system with a new constitution. Recep Tayyip Erdoğan made it clear to his supporters that he will fight for more power whatever it costs, by holding election rallies throughout the country. That was a constitutional crime due to the fact that the President has to be unbiased and nonpartisan. The decline means that millions of AKP voters refused this policy. Opposition parties were able to convince people that the authoritarian tendencies of Erdoğan, which exposed increasingly in the last years, are damaging the democratic life in the country. The politics of AKP government on Syria and Rojava had a notable impact on the results. Erdoğan was denouncing the resistance and calling Kurdish fighters of Kobane as terrorists. Many Kurds didn’t forget what he said. While AKP votes reduced by half in many Kurdish cities, HDP got overwhelmingly good results compared to the previous elections.
The neoliberal agenda of AKP government was explicitly questioned in the last years. Economical development of the country was coupled with unfair wages, uneven distribution of wealth and worse working conditions. Soma mine disaster where 311 workers were killed last year was a result of flexible working conditions and subcontracting mechanisms promoted by AKP government. The decrease of the price of coal in Soma mines was presented as a success story of liberalisation of markets by AKP ministers, which turned into a scandal after the disaster. On average 5 workers die a day in Turkey in occupational accidents because of the lack of safety measures.
Tactic of polarisation
AKP needed to get more then 330 MPs in order to change the constitution. Despite the decline in the votes, there was the possibility of having more than that in the parliament. Thanks to the bizarre electoral system and the 10% hurdle, which is intended to diminish the left and Kurdish representation in the parliament by the 1980 military coup, the failure of HDP could work in favour ruling party AKP because it is the second party in most of the Kurdish provinces. Therefore, Erdoğan tried the tactic of polarisation in his election campaign by accusing HDP as being in line with terror. He used hate speech against HDP members and non-Sunnite religious categories that are represented in HDP. This policy cleared the way for more than 160 attacks against HDP offices by fascists and nationalists. None of the perpetrators were arrested or brought to trial. Lastly, Amed rally of HDP that gathered hundreds of thousands together was bombed. 5 people died and hundreds wounded in the attacks. Once again, perpetrators remained unknown. There were many concerns in the opposition parties about the electoral fraud based on the scandalous acts of AKP in the former elections. Political parties, NGOs and international institutions observed the elections closely. Thanks to the careful observers, there was no big-scale fraud this time, except some small irregularities.
HDP achieved a tremendous victory
HDP had a successful election campaign. The candidate list reflected the plurality and diversity of the party. Alevis, Sunnites, Armenians, Ezidis, Arabs, ecologists, LGBT activists, socialists and many other ignored groups were represented in HDP lists. Selahattin Demirtaş, co-chair of HDP, gathered a great attention with his humorous style, clear radical left political argumentation on tricky issues and his determination. He was enough patient on overcoming prejudices which was produced by nationalist circles often. Demirtaş told in his post-election speech, “As of this moment, the debate on the presidency, the debate about dictatorship, has come to an end in Turkey. Turkey has returned from the edge of a cliff.«
In one-year time, HDP doubled its support from 6.29% to 13.1%. HDP got 2.6 million votes in the local elections in March 2014, which was the traditional support of Kurdish parties. In 5 months time in August 2014, Selahattin Demirtaş got 4 million votes in the presidential elections. HDP was able to continue this trend and increased its votes by half with the total of 6.1 million votes. This indicates a large-scale shift to radical left politics in the society. HDP was established in 2012 as a broad coalition of Kurdish Liberation Movement, numerous left organisations and social movements. Its programme is inspired by democratic socialist values and anti-capitalism that demand economical and social rights for working class, equal treatment to religious and ethnical minorities, gender equality and environmental protection. The roots of HDP can be followed in Gezi protests and Kurdish Liberation Movement. Many people see HDP as the Turkish variant of SYRIZA and Podemos.
The increase of HDP votes occurred not just in Kurdish territories, but also in west of country, such as the Kemalism dominated city İzmir. Oppressed minorities and discriminated people of all regions voted for HDP. Demirtaş said in his post-election speech “It’s the victory of workers, the unemployed, the villagers, the farmers. It’s the victory of the left.” It can be allegedly said that there are three categories that explains the increase. First category is the former AKP voters from the Kurdish community who are fed up with Erdoğan’s nationalist tendencies, which disrupted the peace process with Öcalan. Second is left social democrat circles of Turkish working class and Alevites that vote traditionally for CHP. Third category is the concerned citizens who decided to vote ‘tactically’ for HDP in order to prevent another AKP rule. HDP leadership was able to convert the sympathy it had throughout the society into votes wisely.
Slightly increase for MHP, stagnation for CHP
The fascists of MHP, Nationalist Movement Party, slightly increased its votes, from 13.01% to 16.28%. It can be allegedly said that the increase came from the protest votes from conservative AKP supporters. CHP, Republican People’s Party preserved its 25% base. The participation to elections was 85%, which is the highest for a long while.
Possibilities and the way forward for HDP
The current political scene in the parliament indicates a deadlock for ruling class. None of the parties are willing to be the small coalition partner of AKP. An alternative of CHP-MHP government doesn’t look realistic. It is likely to have a minority government of AKP with the condition of early elections. HDP made its post-election strategy clear prior to elections. It will be in the opposition, reject going into coalition talks with AKP and push for early elections. The parliamentary group of HDP will be the voice of social movements, continue the peace negotiations and reflect the demands of oppressed communities. HDP has a great potential of showing a rising tendency.
It was the first time that Turkish citizens could vote abroad in consulates. HDP is the second party in abroad with 20.41% of the votes. In many cities of Europe, local HDP branches were founded in order to conduct the election campaign. They will continue to organise and recruit in order to get ready for possible early elections. Now it is time for peace, democracy, freedom, justice, equality and solidarity in Turkey. It is time for left and for HDP.
Schlagwörter: AKP, CHP, Erkin Erdoğan, Gezi, HDP, Kobane, Kurden, Linke, marx21, MHP, Recep Tayyip Erdoğan, Türkei, Wirtschaftspolitik