Bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung und den zeitgleich stattfindenden Regional- und Gemeindewahlen am 15./16. Mai erlitt die chilenische Rechte eine vernichtende Niederlage. Von Sam Flewett
Das Abhalten von Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung war ein Zugeständnis der rechten Piñera-Regierung. Im Jahr 2019 sah sie sich mit der wahrscheinlich größten Protestwelle in ganz Lateinamerika in fünfzig Jahren konfrontiert. In der Hoffnung, zumindest den Schein einer Ordnung auf den Straßen wieder herzustellen, und als Zeichen ihres demokratischen Willens, stellte sie am 15. November 2019 die alte Militärverfassung zur Disposition.
Pinochets Erbe
Die gegenwärtige Verfassung wurde im Jahr 1980 von Jaime Guzmań, Cheftheoretiker der Militärdiktatur, geschrieben. Das erklärte Ziel war die Verankerung der neoliberalen Neuordnung in der Verfassung, die die »Chicago Boys« nach dem Militärputsch im Jahr 1973 etabliert hatten.
Angefangen mit Abtreibungsrechten bis hin zur Rentengesetzgebung hat die Verfassung das explizite Ziel, jegliche progressive gesetzliche Änderung auszuschließen. Angesichts dieser Tatsache war eine der Hauptforderungen der sozialen Proteste in den letzten Jahrzehnten die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung.
Bedingung Zweidrittelmehrheit
Die größte Hürde, die in diese Vereinbarung vom 15. November eingebaut wurde, war die von den Rechten geforderte Bedingung einer Zweidrittelmehrheit – unter Androhung einer weiteren Eskalation der Repression.
Diese Klausel trieb einen tiefen Spalt in die Reihen der Linken, der bis heute nicht überwunden wurde.
Über die ursprünglichen wirtschaftlichen Forderungen hinaus forderte die Bewegung jedoch eine vollständige soziale, ökonomische und kulturelle Transformation.
Piñera wird abgestraft
Allerdings erreichte die Rechte mit ihrem Stimmenanteil von 21 Prozent und ihren 24 Prozent der Sitze nicht einmal annähernd das erforderliche Eindrittel, um ein Veto einlegen zu können.
Angesichts von Zustimmungsquoten für Piñera weit unter 20 Prozent ist die chilenische Rechte kopflos. Gleiches gilt für die traditionelle Mitte-Links-Koalition (Concertación), die während der letzten 24 Jahre die Regierung bildete.
Quasi-Garantie für eine neue Verfassung
Die Ergebnisse der jüngsten Wahlen sind die Quasi-Garantie einer neuen Verfassung, die ein hohes Grad an Demokratie, Umweltschutz und Anerkennung der verschiedenen indigenen Minderheiten verankern wird. Die Verfassungsgebende Versammlung soll zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern bestehen, 10 Prozent der Sitze werden von indigenen Vertretern und Vertreterinnen besetzt. Etwa die Hälfte der Sitze fallen unabhängigen Kandidaten zu. Sie sind mehrheitlich prominente Aktivisten und Aktivistinnen der verschiedenen sozialen Bewegungen der letzten 15 Jahre.
Für große Überraschung sorgten die Ergebnisse der unabhängigen linken »Volksliste« (Lista del Pueblo). Sie vereinte mehr Stimmen in sich als das traditionelle Mitte-links-Bündnis von Sozialistischer Partei, Christdemokraten und kleineren anderen Parteien.
Eine enorme Verantwortung
Die kommende Regierung wird aller Wahrscheinlichkeit eine linke und keine Mitte-Linke. Das ist für uns eine enorme Chance, aber auch eine enorme Verantwortung.
Die zunehmende politische Instabilität, die mit den Studierendenprotesten im Jahr 2006 begann, einen neuen Höhepunkt im Jahr 2011 erreichte und 2019 revolutionäre Züge annahm, wird sich wahrscheinlich etwas legen, während die neue Verfassung formuliert wird und wir einen Weg aus der Pandemie suchen.
Ein Beispiel für Kämpfe in der Welt
Unsere Aufgabe ist es, dieses großartige Gefühl der Hoffnung in echte Veränderung umzumünzen. Von heute an werden sich unsere Erfolge nicht allein anhand von Wahlergebnissen, sondern auch an wirtschaftlichen und ökologischen Ergebnisse messen lassen.
Wird es im Jahr 2025 mehr oder weniger Ungleichheit als heute geben? Wie weit werden wir fossile Energieträger zurückgedrängt haben? Erfolge auf diesen Gebieten werden nicht nur innerhalb der chilenischen Grenzen von Bedeutung sein. Sie werden ein Beispiel für Menschen sein, die für ihre Rechte in Kolumbien genauso wie in Palästina sowie in anderen Weltteilen kämpfen.
Aus dem Englischen von David Paenson.
Bild: DILO.cl / Flickr
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