Am 24. Juni wird in der Türkei gewählt. Seit dem 7. Juni können türkische Wahlberechtigte, die im Ausland leben, ihre Stimme abgeben. Doch anders als in früheren türkischen Wahlkämpfen gibt es keine Auftritte von AKP-Spitzenpolitikern in Deutschland, denn seit vergangenem Jahr gilt ein Auftrittsverbot ausländischer Amtsträger drei Monate vor einer Wahl in ihrem Land. Rojda Gündoğan über die Fragen, ob es richtig ist, Politikerinnen und Politikern der AKP den Wahlkampf zu verbieten und wie die Linke einen Keil zwischen Erdoğan und seine Anhängerschaft in Deutschland treiben kann
Viele Menschen sind zu Recht wütend über Erdoğans autoritären Kurs, seinen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden und sie erhoffen sich von Auftrittsverboten, dass sie die Position der AKP schwächen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Mithat Sancar, Abgeordnete der oppositionellen HDP, argumentierte im Wahlkampf vor dem Referendum über das Präsidialsystem 2017 gegenüber dem Spiegel richtigerweise: »Die Auftrittsverbote für türkische Minister in Deutschland sind völlig falsch. Ebenso lehne ich Forderungen nach einem Boykott ab. Unsere politisch-moralische Grundhaltung ist eindeutig. Wir sind prinzipiell gegen Verbote und für die Freiheit, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. Mit diesen Methoden spielt man Erdoğan in die Hände und bringt ihn auch nicht zu Zugeständnissen.«
Verbote nutzen Erdoğan
Auftrittsverbote erlauben es Erdoğan, sich als Opfer zu inszenieren. Er kann den Türkinnen und Türken in Deutschland oder den Niederlanden zurufen, sie würden nicht die gleichen Rechte genießen. Verbote spalten und nützen am Ende Erdoğans Wahlkampagne. Der deutsche Staat ist keine Hilfe im Kampf gegen Erdoğans autoritären Kurs. Im März 2017 hat das Bundesinnenministerium per Erlass die Zahl der Gruppierungen erheblich ausgeweitet, deren Fahnen und Symbole auf Grundlage des seit 1993 bestehenden Betätigungsverbots für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nicht mehr öffentlich gezeigt werden dürfen. Damit beteiligt sich Merkels Regierung an den unterdrückerischen Maßnahmen Erdoğans gegen die kurdische Bewegung.
Es ist irreführend, wenn Linke wie Sahra Wagenknecht den deutschen Staat als Akteur im Kampf gegen Erdoğans Politik ins Spiel bringen wollen. Den Staat aufzufordern, politische Veranstaltungen zu verbieten, kann für die Linke schnell zum Eigentor werden. Die historische Erfahrung zeigt, dass der Staat Instrumentarien wie Versammlungs- und Organisationsverbote in Zeiten zugespitzter Klassenauseinandersetzungen vor allem gegen die politische Linke einsetzte.
Während des Wahlkampfes zum Referendum über das Präsidialsystem in der Türkei wurde der Auftritt des türkischen Justizministers im baden-württembergischen Gaggenau verboten. Die Begründung war besonders heikel: Die Veranstaltung wurde untersagt, weil es »zu voll wird« und »zu wenig Parkplätze da sind«. Mit der Begründung kann der Staat jeden Protest verbieten, der verspricht groß zu werden – zum Beispiel gegen den AfD-Parteitag oder gegen hohe Mieten.
Gemeinsamer Protest statt Auftrittsverbote
Aber was ist die Alternative zu Auftrittsverboten? Der gemeinsame Protest gegen Erdoğan. Aktuelle Umfragen prognostizieren 43,5 Prozent der Stimmen für Erdoğan – das reicht nicht für einen Sieg in der ersten Runde. Zum Vergleich: 2011 erreichte er 49,83 Prozent der Stimmen – das beste Ergebnis bis heute. Bei der Wahl 2015 erreicht Erdoğans AKP nur 40,87 Prozent – nach 2002 das schlechteste Ergebnis. Bei den Neuwahlen im November 2015 erreichte die AKP ihr zweitbestes Ergebnis mit 49,5 Prozent und holte sich die alleinige Macht im Parlament zurück.
Erdoğans Mehrheit ist aber alles andere als sicher: Der Grund dafür ist die immer schlechter werdende wirtschaftliche Situation, die einen großen Einfluss darauf hat, dass Erdoğan Stimmen verliert. Jedoch setzt Erdoğan auch bei diesen Wahlen wieder auf die Stimmen der in der Diaspora lebenden Wahlberechtigten.
Wie ist die Situation in Deutschland?
In der Vergangenheit genoss Erdoğan unter denjenigen, die sich an der Wahl beteiligen, Rückhalt. Bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015 stimmten 60 Prozent der wahlberechtigten Deutschtürken für Erdoğan und seine Regierungspartei AKP. Beim Referendum für Erdoğans Verfassungsreform 2017 war die Zustimmung unter den Wahlberechtigten mit über 63 Prozent wesentlich höher als in der Türkei. Grünen-Chef Cem Özdemir forderte deswegen: »Die Auseinandersetzung um Herz und Verstand der Türkeistämmigen muss endlich aufgenommen werden. (…) Künftig muss stärker darauf bestanden werden, dass auf Dauer in Deutschland Lebende nicht nur mit den Zehenspitzen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, sondern mit beiden Füßen.«
Aber unterstützt tatsächlich eine Mehrheit der Deutschtürken die aktuelle Politik Erdoğans? Ein Blick auf die Zahlen bei der Wahl zum Verfassungsreferendum 2017 gibt Aufschluss: 2,85 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei leben in Deutschland. Von ihnen sind 1,43 Millionen wahlberechtigte türkische Staatsangehörige. Rund 46 Prozent – also etwa 661.000 Personen – haben von diesem Recht Gebrauch gemacht. Mit Ja gestimmt haben etwa 416.000 der in Deutschland lebenden Wahlberechtigten. Wer also alle in Deutschland lebenden Wahlberechtigten einbezieht, dem fällt auf, dass nur 29 Prozent von ihnen für die Machterweiterung Erdoğans gestimmt haben, der Rest hat entweder mit Nein gestimmt oder ist nicht zur Wahl gegangen. Aus dem Wahlergebnis lässt sich also weder schließen, die Mehrheit der Deutschtürken sei für den Demokratieabbau in der Türkei, noch, sie sei »Feuer und Flamme« für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dessen Plan, sich mit mehr Macht auszustatten.
Rassismus und Heuchelei in Deutschland
Es ist abstrus, wenn Özdemir und andere aufgrund der Wahlentscheidung vieler Deutschtürken für Erdoğan die einhundertste Integrationsdebatte anstoßen wollen. Dahinter steckt vor allem eines: Es soll ablenken von einer Politik, die Erdoğan weiter Waffen liefert und die Türkei als Brückenkopf nutzt für ihre Kriege im Nahen Osten und als Wachposten gegenüber den Menschen, die vor diesen Kriegen fliehen.
Andere gehen in ihren Anschuldigungen gegenüber den Unterstützern Erdoğans in Deutschland noch weiter. So forderte das AfD-Parteivorstandsmitglied Alice Weidel: »Erdoğans fünfte Kolonne« solle »dahin gehen, wo es ihnen offensichtlich am besten gefällt und wo sie auch hingehören: in die Türkei«. Es sind genau dieser Rassismus und die Tatsache, dass der hier lebenden türkischen Bevölkerung immer wieder klargemacht wird, dass sie hier niemals vollständig akzeptiert werden wird, die viele Deutschtürken in die Arme Erdoğans treibt. Die ARD-Sendung Panorama fragte in ihrer Sendung »Deutschtürken: Fremd in der Heimat«, einen Deutschen mit türkischen Wurzeln, warum sich so viele Deutschtürken nicht integriert fühlen. Die Antwort ist bezeichnend: »Mesut Özil spielt in der deutschen Nationalmannschaft, deshalb ist er Deutscher mit Migrationshintergrund. Aber wenn Mesut Özil morgen jemand zusammenschlagen würde, wäre er der Türke.«
Auch in Deutschland gibt es eine türkische Opposition
Erdoğan will die Wut vieler Türken in Deutschland über Rassismus, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen nutzen, um sich als ihr Patron darzustellen. Wenn sie in Deutschland schon nicht willkommen sind, obwohl vielfach hier geboren, dann sind sie eben Türken und genauso hat Erdoğan sie angesprochen. Doch auch in Deutschland gibt es eine türkische Opposition. Das war schon bei der Hayir-Kampagne (Nein) sichtbar. In Berlin hat sich beispielsweise die Hälfte der Wählerinnen und Wähler gegen die Verfassungsreform ausgesprochen – das Resultat einer erfolgreichen Kampagne für das Hayir.
Deutschland ist mit den meisten wahlberechtigten Türkinnen und Türken im Ausland wichtig für Erdoğan. Würden sie alle für Erdoğan stimmen, wäre das ein Plus von 3 Prozent. Bei den letzten Wahlen zum Verfassungsreferendum 2017 brachten die Stimmen aus Deutschland dem Erdoğan-Lager jedoch nur ein Plus von 0,9 Prozent ein. Auch in diesem Wahlkampf wird die Linke versuchen, entsprechend der Hayir-Kampagne von 2017, mit zahlreichen dezentralen Wahlkreisgruppen einzugreifen. Die Aufgabe der Linken sollte es sein, einen Keil zwischen die AKP-Führung und ihre religiöse und arme Anhängerschaft zu treiben – auch in Deutschland.
Rojda Gündoğan ist Mitglied der LINKEN in Berlin Neukölln und der HDK Berlin- Brandenburg
Foto: DnTrotaMundos
Schlagwörter: AKP, Erdoğan, Hayir, HDP, Türkei, Türken, Wahlkampf