In Syrien gibt es kein Zurück zur alten Ordnung. Baschar al-Assad versucht die soziale Basis des arabischen Frühlings in seinem Land zu vernichten. Von Jad Bouharoun
Nach Monaten der Belagerung, verheerender Bombardements und des massenhaften Tötens haben die Streitkräfte Assads fast das gesamte Ostaleppo eingenommen, das in der Hand der Aufständischen gelegen hatte. Die überlebenden Rebellen und zehntausende Zivilisten werden, während diese Zeilen geschrieben werden, zwangsevakuiert. Aleppo war Syriens bevölkerungsreichste Stadt, als im Juli 2012 die Aufständischen die halbe Stadt unter ihre Kontrolle brachten.
Wir stehen jetzt vor einem entscheidenden politischen und psychologischen Wendepunkt: Im Zuge der Konterrevolution haben die Rebellen mit dieser Stadt ihren letzten wichtigen Stützpunkt verloren. Was einst Syriens wirtschaftliches Zentrum war, liegt wieder in den Händen der Regierung – ein Trümmerfeld, wie alle Städte, über die Assad den Sieg erklären kann.
Kein Zurück zur alten Ordnung
Auch wenn die Revolution in Syrien niedergeschlagen wurde, ist Assads Konterrevolution noch nicht vorbei. Er kann nicht einfach zu der alten Ordnung zurückkehren, weil eben diese Ordnung Grund des Volksaufstands war. Das geschwächte Regime muss neue Verhältnisse schaffen, indem es die soziale Basis der revolutionären Bewegung zerstört.
Deshalb ist es kein Wunder, dass Assad zu der mittelalterlichen Taktik der Belagerung aufständischer Städte und Stadtviertel gegriffen hat, sie eingeschlossen, ausgehungert und ausgebombt hat, bis die erschöpften Rebellen und Zivilisten der »Evakuierung« zustimmten – was der völligen Entvölkerung der Stadtviertel gleichkommt.
Das ist es, was wir zurzeit in Aleppo verfolgen können. Homs, Hama, Jabrud, Sabadani, al-Qusair und zahllose Städte in der Umgebung von Damaskus sind gefallen oder kurz vor dem Fall aufgrund dieser Taktik. Die übergroße Mehrheit der Millionen Flüchtlinge in und außerhalb Syriens flüchten vor den Verheerungen, die das Regime mit seinen Bombardements angerichtet hat.
Armut und Unterdrückung
Um zu verstehen, wie der syrische Bürgerkrieg begann, müssen wir einen Blick auf das baathistische Regime und den Ursprung der Revolution werfen. Baschar al-Assad kam im Jahr 2000 nach dem Tod seines Vaters Hafis an die Macht. Damals gründete die syrische Ökonomie vor allem auf Staatsbetrieben, auch wenn Hafis in den 1990er Jahren bereits die Wirtschaftsliberalisierung eingeleitet hatte – so wie Sadat und Mubarak in Ägypten.
Baschars Machtantritt fiel zusammen mit dem Vorantreiben neoliberaler Reformen. Die Bourgeoisie gedieh und profitierte von Handel, Spekulation und Privatisierung, während die übrige Bevölkerung immer mehr darunter litt. Landprivatisierung und mehrere Trockenzeiten richteten Verheerungen in der Bauernschaft an. Die Abschaffung der Mietpreiskontrolle und Mietensubvention versetzte der städtischen Mittelschicht und Arbeiterklasse einen schweren Schlag.
Im Jahr 2010 hatte die wirtschaftliche Ungleichheit ein nie zuvor in Syrien erlebtes Ausmaß angenommen: 12 Prozent der Bevölkerung konnte sich kaum noch ausreichend Lebensmittel leisten, mindestens 40 Prozent lebten in Armut. Der Sicherheitsapparat des Regimes schützte die Reichen: Unabhängige Gewerkschaften waren in den 70er-Jahren verboten worden und der Polizeistaat kontrollierte alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Syrien war faktisch ein Einparteienstaat, da nur Parteien, die die »führende Rolle der Baathpartei in der Gesellschaft« anerkannten, legal waren.
Teil des Arabischen Frühlings
Als die Arabische Revolution Ende 2010 begann, wurden die Syrer Zeugen des Sturzes zweier Diktatoren durch Massendemonstrationen und Streiks: Ben Alis in Tunesien und Mubaraks in Ägypten. Jedes Land hatte seine Besonderheiten, aber der rote Faden, der sich durch die Ereignisse zog, war der Aufstand gegen Armut und Unterdrückung.
Friedliche Proteste begannen im März 2011 und breiteten sich schnell auf ganz Syrien aus. Es war, als explodiere ein Dampfdrucktopf, und damals gab es noch keine konfessionell motivierte Spaltung. Das Regime ließ auf die Menge schießen, entführte und folterte Demonstranten und Aktivisten, aber konnte die Bewegung nicht eindämmen. Assad erhöhte den Druck, setzte Panzer, Artillerie und die Luftwaffe ein, um den Aufstand niederzuschlagen.
Auf diese Weise wurde die Revolution militarisiert, da viele Zivilisten zu den Waffen griffen, um sich und die Protestierenden zu schützen. Ungeübt, mangelhaft ausgestattet und zersplittert erhielten sie in den Jahren 2011 und 2012 Zulauf von zehntausenden Überläufern aus Assads Armee, die entsetzt über die wüste Unterdrückung waren. Die Freie Syrische Armee (FSA) entstand als lockeres Bündnis revolutionärer Kräfte, die gegen das Regime Assads kämpften. Sie war jedoch fragmentiert und blieb es bis heute.
Teufelskreis der Konterrevolution
Und so begann der Teufelskreis der Konterrevolution: Wegen der brutalen Unterdrückungsmaßnahmen war die Bewegung gezwungen, zu immer zerstreuteren Formen des Widerstands zu greifen, und konnte keine wirkliche politische Kontrolle über die bewaffneten Rebellen ausüben.
Das Regime versuchte, Spaltungen entlang der Konfessionen in die Bewegung hineinzutragen, um seine Gegner als sunnitisch-dschihadistische Terroristen darzustellen. Assad entließ hunderte bekannte Dschihadisten aus dem Gefängnis in Sednaja, griff vor allem die säkulare FSA an und ließ Dschihadisten und dem »Islamischen Staat« freie Hand.
Mit dem Manöver der Religionsspaltung wollte Baschar den wahren gesellschaftlichen Widerspruch verbergen – tatsächlich aber nahmen viele Alawiten und Angehörige von Minderheiten an der Revolution teil. Bekannte sunnitische Geschäftsleute dagegen blieben unbeirrt an der Seite Assads und finanzierten die Unterdrückungsmaßnahmen.
Militarisierung der Revolution
Die meisten Kämpfer glaubten an die Ideale der Revolution, aber sie benötigten Geld und Waffen. Sie mussten sich an Geberländer wie Saudi-Arabien, Katar und die Türkei wenden, die eine gute Gelegenheit witterten, ihre eigenen Interessen in Syrien und der Region zu verfolgen. Sie finanzierten die radikalsten sunnitisch-islamistischen Gruppen (an deren Spitze häufig Veteranen des Dschihadismus standen, die Assad aus dem Gefängnis entlassen hatte). Sie konnten gedeihen auf Kosten der überwiegend säkularen FSA. Um das Regime besser bekämpfen zu können, mussten sich viele FSA-Kämpfer dschihadistisch-islamistischen Gruppen anschließen, deren reaktionäre Führung die Ziele der syrischen Revolution ablehnte.
Auf der anderen Seite entstand Daesch (der IS, d. Red.) aus einer völlig entgegengesetzten Dynamik: Jahrzehnte des Kriegs, imperialistischen Eingreifens und der Verheerungen im Irak ermöglichten es dem IS, einer Sammlung aus traditionellen Dschihadisten und Veteranen der Armee Saddam Husseins, Mossul zu erobern. Mossul wurde der Stützpunkt, von dem aus er nach Ostsyrien vordrang, das von Assads Truppen weitgehend zerstört und aufgegeben worden war.
Schlachtfeld der Imperialisten
Iran und Russland kamen ihrem Verbündeten zu Hilfe, indem sie anfangs die Bewaffnung des Regimes finanzierten und später direkt militärisch eingriffen. Der Iran sandte zahllose schiitisch-islamistische bewaffnete Gruppen aus, um die stark geschwächte syrische Armee zu unterstützten. Russland begann im September 2015 das Bombardement, offiziell um den »Terrorismus« zu bekämpfen, nahm aber wie die Regimekräfte vor allem Gebiete ins Visier, die in der Hand der Aufständischen und nicht des IS lagen.
Assads Konterrevolution wurde somit zum Auslöser eines Kriegs, der Syrien in ein innerimperialistisches Schlachtfeld verwandelt hat: Iran, Türkei und die Golfstaaten sind – abgesehen von Israel – die Hauptpole der kapitalistischen Akkumulation in der Region und neigen deshalb dazu, über ihre eigenen Grenzen hinweg ihre jeweiligen Interessen zu verfolgen. Russland versucht, einen seiner Verbündeten aus Sowjetzeiten zu stützen und seinen Marinestützpunkt in Tartus am Mittelmeer zu halten. Alle Länder, die in Syrien eingegriffen haben, natürlich auch die westlichen, die den IS bombardierten, werden versuchen, sich ihren Anteil des Kuchens zu sichern, wenn der Krieg beendet ist, egal was mit der syrischen Bevölkerung geschieht.
Assad ist abhängig
Dennoch wird es für Assad schwierig sein, seine Herrschaft wieder zu stabilisieren. Syrien ist halb zerstört und das geschwächte Regime ist jetzt von Auslandsmächten und Milizen abhängig. Millionen Syrer wurden Zeugen der Revolution oder nahmen daran teil, und die Allmacht der Baathpartei gehört der Vergangenheit an.
In Syrien und der arabischen Welt insgesamt wird es weitere Aufstände geben; wann das geschieht und wie sie sich gestalten werden, bleibt abzuwarten. Sicher ist jedenfalls, dass die Fragen der Massenbeteiligung, revolutionärer Organisationen der Arbeiterklasse und die Einstellung zum Staat über das Schicksal der Region und darüber hinaus entscheiden werden.
Demonstrationen, Streiks, Organisation
Viele Linke haben die syrische Revolution nur unter dem Aspekt der Geopolitik gesehen; sie hielten Assads Regime für »antiimperialistisch« (zumindest eine sehr fragwürdige Behauptung) und kamen deshalb zu dem Schluss, dass jeder Aufstand gegen das Regime das Werk einer imperialistischen Verschwörung sein musste. Jeder aufrichtige Sozialist sollte jedoch erkennen können, dass die syrische Revolution in einer Reihe steht mit den Aufständen in Ägypten und Tunesien. Millionen einfache Leute lehnten sich gegen das diktatorische bürgerliche Regime auf, das die große Mehrheit unterdrückte und verarmen ließ.
Eine Revolution stellt eine schwere politische Krise dar, und eine Reihe von Auslandsmächten werden einzugreifen versuchen, um ihre eigenen Interessen zu schützen. Diese Interventionen, einschließlich der des Westens und der Golfstaaten, haben nur wenig zum Sturz des syrischen Regimes beigetragen.
Jede echte Veränderung in der Region und darüber hinaus kann nicht von einem mit harter Hand regierenden Mann kommen, der von dem einen oder anderen Imperialisten unterstützt wird. Sie kann nur das Ergebnis der Beteiligung von Millionen Menschen an Demonstrationen, Streiks und revolutionären Organisationen sein.
(Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning)
Foto: Foreign and Commonwealth Office
Schlagwörter: Ägypten, Aleppo, Arabischer Frühling, Assad, Bürgerkrieg, IS, Islamischer Staat, Revolution, Syrien, Tunesien