Die Situation in der Ukraine war und ist widersprüchlich. Das liegt nicht zuletzt an Verwerfungen innerhalb der herrschenden Oligarchie. Den Kampf der Mächtigen untereinander um die Herrschaft über Wirtschaft und Staat zu verstehen, ist die Grundlage, um neue Perspektiven entwickeln zu könnnen
Die Bevölkerung der Ukraine leidet unter extremer Armut. Schon zur Jahrtausendwende lebten 35 Prozent der Ukrainer unterhalb der Armutsgrenze. Durch den weiteren Niedergang der Industrie und die damit einhergehenden steigende Arbeitslosigkeit hat sich ihre Lage weiter verschlechtert. Das heißt ganz konkret, dass Studenten ihr Studium abbrechen müssen, weil sich ihre Eltern wegen Schulden von nicht mal 40 Euro erhängt haben.
Solche Szenen sind Alltag in der Ukraine. Währenddessen wird der politische Überbau von einigen der reichsten Menschen auf der Welt dominiert. Zwanzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts gehören gerade einmal zwanzig Menschen. Im Jahr 2012 bestand ein Fünftel des 450-köpfigen Parlaments aus Gefolgsleuten von nur zwei Oligarchen. Um die politischen und sozialen Hintergründe der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine zu begreifen, ist es daher notwendig sich ausführlicher mit der Rolle der Oligarchie, ihren Interessen und Bruchstellen auseinanderzusetzen.
Zwei Männer kontrollierten das Parlament in Kiew
In der Analyse der verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse sind wirtschaftliche und nicht politische oder ideologische Faktoren entscheidend. Kategorien wie Nationalismus oder eine Liebe zur Demokratie erklären ihr Handeln nicht. Vielmehr ist dieses in Bezug auf Klasseninteressen, wirtschaftlicher Konkurrenz und den sich daraus formierenden Machtblöcken zu deuten.
Die meisten Oligarchen erlangten die Kontrolle über weite Teile der ukrainischen Wirtschaft im Zuge der umfassenden Privatisierungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie besitzen vor allem die Industrie: Metallverarbeitung, Chemie, Erdgas, Maschinenbau, Automobilindustrie, Schiffsbau. Diese Sektoren werden von einigen wenigen Individuen politisch und wirtschaftlich beherrscht. Von dort aus haben die Mächtigsten unter ihnen weitere Bereiche erobert: Dienstleistungen, Einzelhandel, die Medien und die Banken. Die ukrainische Oligarchie stellt somit eine einzigartige Zusammenballung multipler Kapitalformen dar – industrieller, finanzieller und kommerzieller – mit direkter staatlicher Kontrolle durch die Beteiligung der Oligarchen an Regierungen.
Die Ukraine kennt deshalb keinen freien Markt. Ganz im Gegenteil, das Land rangiert stets am unteren Ende der Skala für »wirtschaftliche Freiheit«. Dieser Zustand stellte für andere Teile der postsowjetischen ukrainischen Elite ein Ärgernis dar. Während vor allem die Industrieoligarchen gemeinsam den Staatsapparat dominierten, versuchten andere Teile der herrschen Klasse an die Hebel der Macht zu kommen, wie in der »Orangenen Revolution« im Jahr 2004. Damals gingen zwar hunderttausende Menschen auf die Straße, dennoch wurde die Bewegung als »Revolte der Millionäre gegen die Milliardäre« bezeichnet.
Die Orangene Revolution spaltet sich
Die in ihrem Kielwasser an die Macht gespülte Regierungskoalition verfolgte das Ziel, den wirtschaftlichen Wettbewerb zu regulieren und per Gesetzgebung mehr Chancengleichheit gegenüber den mächtigeren Oligarchen zu schaffen. Die »orangene« Ideologie betrachtet nach wie vor die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter nur unter dem Gesichtspunkt, dass alle Kapitalisten gleichermaßen davon profitieren sollen.
Die Schwäche des orangenen Blocks gegenüber den größeren Oligarchen ist sein geringeres wirtschaftliches Gewicht und die Brüchigkeit seines Zusammenschlusses. Um den Angriff gegen seinen mächtigen Gegner wagen zu können, brauchte er eine Mobilisierung auf den Straßen.
Nicht einmal zwei Jahre nach den Wahlen führte eine Spaltung in den Reihen des orangenen Blocks zu einer Lähmung des Staates. Daraufhin geriet die Exekutive zunehmend unter den Einfluss führender Oligarchen, während der Mittelstand und Teile des Finanzkapitals sich mit dem radikaleren Pol der orangenen Koalition verbündeten.
Die Oligarchen waren in der Frage einer Zollunion mit Russland in der Zwickmühle. Die ukrainische Industrie, vor allem der Chemiesektor, ist von Gaslieferungen aus Russland abhängig. Die willkürlichen Gaspreiserhöhungen haben das Leistungsbilanzdefizit – also die Geldmenge, die mehr für Importe ausgegeben wird als durch Exportgewinne hereinkommt – der Ukraine erheblich vergrößert. Mit diesem Druckmittel drängte Russland die Ukraine, entweder der Zollunion beizutreten oder ihr eigenes Gasnetzunternehmen Naftogas mit dem russischen staatseigenen Unternehmen Gazprom zu verschmelzen. In beiden Fällen würde die Souveränität der Ukraine durch den wirtschaftlichen Imperialismus Russlands spürbar eingeschränkt.
Weder Russland noch Westen
Die Alternative einer stärkeren Anbindung an den Westen wiederum bedroht nicht nur den Lebensstandard der einfachen Bevölkerung. Sie bedeutet auch eine Gefährdung der wirtschaftlichen Interessen für viele der mächtigen Oligarchen. Trotz ihrer Differenzen haben sie doch letztlich ein gemeinsames Ziel: die Verhinderung eines kontrollierten freien Markts. Eine engere Bindung an den Westen durch Kredite des Internationalen Währungsfonds und ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union würde ihre direkte Herrschaft über den Staatsapparat in Frage stellen, da westliche imperialistische Interessen zunehmend an Einfluss gewännen. Eine solche Entwicklung zeigte sich bereits in der Rückkehr zur geänderten Verfassung von 2004, die das Parlament im Februar dieses Jahres beschloss. Durch die Verfassungsänderung werden die Rechte des Präsidenten eingeschränkt.
Leitlinie der Oligarchenriege in der Innen- und Außenpolitik war es also immer, eine Balance zwischen dem Einfluss der imperialistischen Mächte zu halten.
Die Wirtschaftskrise der Jahre 2007 und 2008 traf die ukrainische Wirtschaft besonders hart. Im Jahr 2009 sank die Wirtschaftsleistung um 15 Prozent. Die Krise untergrub die ökonomische Unabhängigkeit des Landes, dessen Bruttosozialprodukt zu sechzig Prozent durch Exporte erwirtschaftet wird.
Zusammen mit dem steigenden Handelsdefizit gegenüber Russland ließen die Krisenauswirkungen eine Entscheidung entweder für den Westen oder Russland immer notwendiger werden. Ihren Gipfel erreichte die Wirtschaftskrise im Sommer 2013, als Präsident Janukowitsch das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union ablehnte. Ein letzter verzweifelter Versuch der Oligarchie, den imperialistischen Widerspruch weiter in der Schwebe zu halten, der jedoch angesichts des anstehenden gesellschaftlichen Aufstands zum Scheitern verurteilt war.
Ein neuer Machtblock
Die Umwälzungen der Maidan-Bewegung hat eine neue Fraktion der Eliten für sich genutzt, um an die Regierung zu kommen. Seitdem bemüht sie sich, die Hegemonie über Staat und Gesellschaft zu konsolidieren. Der neue Machtblock umfasst im Wesentlichen drei wirtschaftliche Gruppen: einige Oligarchen, die zunehmend von westlichen Märkten abhängig sind, einheimisches und ausländisches Finanzkapital sowie kleine Geschäftsleute.
Die erste Gruppe hat ihre Wurzeln in der alten industriellen Oligarchie. Zu den führenden Mitgliedern zählen Oligarchen wie Wiktor Pintschuk und Petro Poroschenko. Zwei wesentliche Faktoren haben Teile der Oligarchen zu einer Assoziierung mit dem Westen gedrängt: Einerseits fehlt ihnen nach dem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft, der eine hohe Inflation, Stagnation und Kapitalflucht nach sich zieht, nunmehr ein stabiler Markt. Andererseits haben frustrierende Erfahrungen mit der Regierung von Präsident Janukowitsch den Wunsch nach staatlicher Stabilität geweckt.
Zum neuen Machtblock gehört zweitens das unabhängige Finanzkapital, das heute in der Ukraine relativ schwach ist. Der Bankensektor, der von internationalen Finanzorganisationen durchweg als einer der schwächsten in der gesamten Region angesehen wird, wurde im Jahr 2012 zu 39 Prozent von ausländischen Investoren und nur zu einem geringen Teil von den Oligarchen kontrolliert: Nur zwei der zehn größten Banken, die zusammengenommen 54 Prozent des Bankvermögens umfassen, waren im Besitz von Oligarchen. Der mächtigste Finanzoligarch, Ihor Kolomojskyj, dessen PrivatBank die größte der Ukraine ist, stand schon lange Zeit in Opposition zu den industriellen Oligarchen. Bereits 2004 unterstützte er tatkräftig das orangene Lager. Anfang März dieses Jahres wurde er von der provisorischen Regierung in Kiew zum Gouverneur für die Region Dnipropetrowsk im Osten ernannt.
Der dritte Teil dieses aufsteigenden Machtblocks umfasst die Schicht der »Unternehmer«, der kleinen Geschäftsleute, mit anderen Worten: das Kleinbürgertum. In der Ukraine gibt es eine Tradition kleinbürgerlichen Massenwiderstands gegen alles, was ihnen nach oligarchischem Machtmissbrauch schmeckt.
Faschisten spielen eine immer größere Rolle
Passend zur wirtschaftlichen Heterogenität dieser jungen Herrschaftsformation ist auch ihre Ideologie ein buntes Gemisch aus pro-europäischer Orientierung (wozu Forderungen nach zuverlässiger wirtschaftlicher Gesetzgebung und politischer Demokratie zählen), Nationalismus (die Stärkung »unserer« Oligarchen gegen die historische Kolonialmacht Russland) und Neofaschismus (die faschistische Swoboda-Bewegung brüstete sich damit, ausschließlich von Geschäftsleuten finanziert zu werden). Durch Militarisierung, Ausländerhass und die spektakuläre Zurschaustellung ohnmächtiger Gewalt spielt der faschistische Flügel eine wichtige und zunehmend gefährliche Rolle darin, die Wut der Arbeiterklasse von den Kapitalisten der Koalition abzulenken.
Doch die Schwierigkeiten dieses Zusammenschlusses, sich an der Macht zu halten, liegen nicht nur in seinen internen Widersprüchen begründet. Auch die Ausprägung des Staatsapparats selbst stellt ein Hindernis dar. Während die ökonomischen Interessen der Oligarchie, vor allem der industriellen, nach gesellschaftlicher Stabilität verlangten, brauchte sie auf der politischen Ebene einen formbaren und dienerischen Staat. Dieser musste zudem nach außen hin genügend Stärke besitzen, die wirtschaftliche Souveränität der Ukraine gegen die omnipräsenten imperialen Ansprüche von West und Ost zu verteidigen.
Unter Janukowitsch hatte die Regierung die staatlichen Strukturen zentralisiert und die Exekutive gestärkt. Diese Form des Staatsapparats diente der Stabilisierung und der Eindämmung der vielfältigen gesellschaftlichen Widersprüche im Dienst des bestehenden oligarchischen Blocks. Sie ist jedoch nicht geschaffen für die Interessen der Kiewer Regierung der Post-Maidan-Zeit.
Mehr Nähe zur EU bedeutet mehr Arbeitslosigkeit
Beim Versuch, seine Hegemonie über eine vereinte Ukraine zu sichern, stützt sich der neue Machtblock auf die politische und wirtschaftliche Schützenhilfe des westlichen Imperialismus. Um das Investitionsklima attraktiver zu gestalten, sollen die Wirtschaft und das Rechtssystem neoliberal umgestaltet werden. Dies schließt auch die Bekämpfung der willkürlichen Praktiken der Oligarchen zur Sicherung und Vergrößerung ihres Reichtums ein. Doch angesichts der durch die Massenbewegung des Maidan ausgelösten Krise unterstützt trotzdem eine Mehrheit der Oligarchen zumindest passiv die neue Kiewer Regierung.
Um ihre Profite zu sichern, nehmen die Oligarchen das sich abzeichnende soziale Desaster einer strikten Kürzungspolitik bereitwillig in Kauf. Ein Assoziierungsabkommen mit der EU bedeutet strengere Produktionsstandards, den Niedergang des Kohlebergbaus und der Stahlindustrie und den Verlust von Arbeitsplätzen in der Ostukraine. Die im oligarchischen kapitalistischen System bereits bestehende extreme soziale Ungleichheit wird so in diesen Regionen noch weiter vertieft.
Der Protest dagegen hatte große Schwierigkeiten, einen unabhängigen politischen Ausdruck zu finden. In den letzten Jahren wurden viele Gewerkschaften verboten oder deren führenden Aktivisten in den Betrieben gekündigt. Dies geschah vor allem in Firmen im Besitz multinationaler Konzerne, in denen sich eine gewerkschaftliche Organisierung insgesamt schwieriger gestaltet. Das neue Handelsabkommen mit der EU wird die Ukraine für die Multis weiter öffnen und damit die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Arbeiterklasse zusätzlich schwächen.
Die Aussichten auf eine sozial gerechte Krisenlösung sind düster. Aber der Funke des Widerstands glüht weiter. Die Menschen, die für Demokratie und gegen die Verschlechterung ihres Lebensstandards aus allen Landesteilen auf den Maidan zogen, werden mit der Austeritätspolitik des Internationalen Währungsfonds bald genauso unzufrieden sein, wie sie es zuvor mit Janukowitsch waren.
Aber diesmal haben sie bereits erlebt, welche entscheidende Rolle ein Massenaufstand in der Politik spielen kann – auch wenn sich aufgrund fehlender effektiver linker Organisationen die berechtigte Klassenwut nicht gegen den ukrainischen Kapitalismus selbst gerichtet hat.
Heute, während von zwei Seiten mörderischer Imperialismus und die Angriffe des ukrainischen Kapitalismus wüten, ist zumindest eines klar: Es sind die Oligarchen, die die Misere der ukrainischen Bevölkerung zu verantworten haben. Sie sind es, gegen die sich betriebliche Aktionen und politische Proteste richten müssen, wenn die Menschen in der Ukraine beginnen wollen, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen.
Übersetzung: David Paenson
Foto: snamess
Schlagwörter: Bürgerkrieg, EU, Euromaidan, Kiew, Krieg, Maidan, Russland, Ukraine