Können Menschen, die selbst nicht unterdrückt sind, Teil des Kampfs für Befreiung sein? Sind alle Weißen mitschuldig an Rassismus oder können sie im Kampf für die Emanzipation der Schwarzen dazugehören? Dies sind nur einige der Fragen, um die es bei der Diskussion über die Theorie von Privilegierung und Unterdrückung geht. Esme Choonara und Yuri Prasad über die Ursprünge und Grenzen der Privilegientheorie
Die Privilegientheorie besagt im Kern, dass Unterdrückung durch eine Reihe unverdienter Vorteile zugunsten jener wirkt, die von einer spezifischen Unterdrückung verschont bleiben. Alle Männer, alle Weißen, alle heterosexuellen Menschen haben also Privilegien, weil sie nicht Sexismus, Rassismus oder Homophobie/Transphobie ausgesetzt sind. Die Nutznießer dieser Privilegien mögen sich dessen überhaupt nicht bewusst sein, weshalb Vertreter der Privilegientheorie die Notwendigkeit betonen, »Privilegien sichtbar zu machen«, Menschen zu sensibilisieren für unverdiente Vorteile, die sie für gegeben hinnehmen. Ebenso wenig entscheidet die Einzelperson, ob sie diese »Privilegien« haben möchte oder nicht – diese werden automatisch aufgrund der »Rasse«, des Geschlechts, der Sexualität und so weiter des jeweiligen Menschen gewährt. So gesehen ist Klasse nur eine weitere Spaltung unter den unzähligen anderen unterdrückenden Spaltungen in der Gesellschaft.
Meist wird unterstellt, dass Privilegien auf psychologischer Ebene funktionieren, als unbewusste Voreingenommenheit (der deshalb nicht zu entkommen ist). Deshalb besteht die Praxis der Vertreter der Privilegientheorie vor allem darin, andere zu ermahnen, ihre »Privilegien zu reflektieren« (»check your privilege«) – mit anderen Worten wird unterstellt, dass die fraglichen Handlungen oder Ideen unmittelbares Resultat unbewusster Vorurteile aufgrund der »privilegierten Stellung« einer Person sind.
Peggy McIntosh und die Privilegientheorie
Eine der einflussreichsten Pionierinnen der Privilegientheorie, die US-amerikanische Aktivistin Peggy McIntosh, beschrieb dies bekanntermaßen als »unsichtbaren Rucksack«. Mit Blick auf ihre eigene Position als weiße Frau schreibt sie: »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Privilegierung als Weiße [White Privilege] ein unsichtbares Paket unverdienten Vermögens ist, auf dessen Einlösung ich mich jeden Tag verlassen kann, was ich aber nicht wahrnehmen ’soll’. Das Weißenprivileg ist wie ein unsichtbarer gewichtsloser Rucksack voll mit besonderen Vorräten, Karten, Ausweisen, Codebüchern, Visa, Kleidung, Werkzeugen und Blankoschecks.«
Sodann listet sie 46 Bereiche ihres Alltagslebens auf, in denen sie als weiße Frau im Gegensatz zu Schwarzen viele Dinge einfach für selbstverständlich halten kann. Auf der einen Ebene kann das als Untersuchung der Wirkungsweise von Rassismus auf das Alltagsleben betrachtet werden. Aber hinter dieser Beschreibung steht McIntoshs Erklärung der Funktionsweise von Rassismus und wie dieser am besten bekämpft werden kann. McIntosh äußert sich dazu klar und deutlich: »Die hier von mir beschriebenen Bedingungen führen dazu, dass bestimmte Gruppen systematisch überermächtigt werden. Solch ein Privileg verleiht ganz einfach Vorherrschaft, verleiht das Recht zu kontrollieren aufgrund der eigenen ‘Rasse’ oder des Geschlechts.«
Indem mit der Privilegientheorie die Welt durch das Prisma der »unverdienten Vorteile« betrachtet wird, spiegelt diese das Alltagsverständnis wider, wie Unterdrückung funktioniert. Wer Privilegien besitze, dem nütze die Unterdrückung anderer geradezu automatisch, und sie seien auch darin verstrickt. Die Privilegientheoretikerin und Diversityberaterin Frances Kendall behauptet zum Beispiel: »Alle von uns, die ’Rassen’-Privilegien besitzen, was auf fast alle Weißen zutrifft, und die deshalb auch über die Macht verfügen, unsere Vorurteile in Gesetzesform zu gießen, sind per Definition rassistisch, denn wir profitieren von einem rassistischen System.«
Das ist eine sehr pessimistische und uns entwaffnende Theorie: Wir Einzelnen können unseren Vorurteilen und ihrer Funktion in der Unterdrückung anderer nicht entrinnen. Bestenfalls können wir unter solchen Bedingungen auf erhöhte Selbsterkenntnis hoffen und die schlimmsten Formen individuell unterdrückenden Verhaltens abschwächen, um akzeptable Verbündete jener zu werden, die Unterdrückung erfahren, auch wenn unklar bleibt, zu welchem Zweck wir das tun.
Theorierahmen der Identitätspolitik
Diese pessimistische Sichtweise verweist auf den Ursprung der Privilegientheorie. Denn diese stützt sich auf den Theorierahmen der Identitätspolitik, von der die Linke in den 1980er und 1990er Jahren beherrscht war. Diese Politik spiegelte die Zersplitterung der sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre wider und den politischen Pessimismus der Jahre Margaret Thatchers in Großbritannien und Ronald Reagans in den USA. Vertreter der Identitätspolitik sagen im Grunde, dass nur jene, die eine bestimmte Erfahrung machen, diese auch wirklich verstehen beziehungsweise zuverlässige Verbündete im Kampf dagegen sein können. Die Privilegientheorie akzeptiert diese Prämisse weitgehend, ist zugleich aber auch die Kehrseite dessen, weil sie nicht die Unterdrückten in den Blick nimmt, sondern den angeblich »privilegierten« Unterdrücker.
Das theoretische Rückgrat der Identitätspolitik bildet der Aufstieg der postmarxistischen und postmodernistischen Theorien in der akademischen Welt. Dieser Bruch mit dem Marxismus wurde damit begründet, dass die Zeit der »großen Erzählungen« vorüber sei – der Versuch, die Welt als Ganzes zu verstehen. Die Betonung lag jetzt auf Unsicherheit, Unbestimmtheit und dem vielfachen und zersplitterten Charakter der Realität.
Viele Kernideen der Privilegientheorie spiegeln direkt oder indirekt die Ideen des Postmarxismus wider, der der Identitätspolitik solch einen Aufschwung bescherte. Die Postmarxisten lehnten den Bezug des klassischen Marxismus auf Klasse und Klassenkampf als einer entscheidenden Triebkraft der Geschichte und auf die Arbeiterklasse als Agent des gesellschaftlichen Wandels ab. Einflussreiche Autorinnen und Autoren wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vertraten ausdrücklich die Auffassung, dass die Linke den Klassenansatz als reduktionistisch verwerfen sollte, wobei sie eine höchst verzerrte Version des Marxismus heraufbeschworen, um ihr Argument zu untermauern.
Michel Foucault und die Privilegientheorie
Während Laclau und Mouffe die theoretische Grundlage der Identitätspolitik der 1980er schufen, hatte ein weiterer Postmarxist, der französische Theoretiker Michel Foucault, mit seinen Ideen wohl den nachhaltigsten Einfluss auf Debatten über Macht und Unterdrückung. Foucault ist in vielerlei Hinsicht ein komplexerer und widersprüchlicherer Theoretiker als Laclau oder Mouffe es sind. Seine Schriften über die gesellschaftliche Konstruktion der Sexualität zum Beispiel geben wichtige Denkanstöße und grundieren einen Großteil der heutigen Theorie zur LGBT-Unterdrückung. Er teilt jedoch mit Laclau und Mouffe die Ablehnung des Versuchs, die Gesellschaft als eine Totalität zu begreifen.
Foucaults spezifisches Konzept von Macht hat großen Einfluss auf Theoretikerinnen und Aktive, die sich mit der Frage der Unterdrückung auseinandersetzen. Sein Kernargument, »Macht ist überall«, ist allgegenwärtig. Alex Callinicos fasst Foucaults Theorie wie folgt zusammen: »Macht wird nicht als etwas Einheitliches gesehen, sondern als eine Vielfalt von Beziehungen, die den gesamten Gesellschaftskörper durchdringen. Folglich kann der ökonomischen Basis kein kausaler Vorrang eingeräumt werden, wie es im Marxismus der Fall ist. Zudem ist Macht produktiv: Sie wirkt nicht durch Unterdrückung von Individuen […], sondern indem sie sie schafft. […] Schließlich ruft Macht notwendigerweise Widerstand hervor, wenn auch so bruchstückhaft und dezentralisiert wie die von ihm angegriffenen Machtverhältnisse.«
Was heißt das? Das heißt, Macht ist nicht etwas, das einige Menschen besitzen und andere nicht. Laut Foucault ist sie nicht in den Händen einer kapitalistischen Klasse oder des Staats konzentriert, wie es die marxistische Tradition vertritt, sondern sie durchdringt die ganze Gesellschaft und prägt deshalb alle gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen. Das hat natürlich Auswirkungen darauf, wie Ungerechtigkeit und Ungleichheit verstanden und angefochten werden können.
Foucault begründet ausführlich, dass Macht nicht bei der herrschenden Klasse oder dem Staat liegt: »Weder die regierende Kaste, noch die Gruppen, die die Staatsapparate kontrollieren, noch diejenigen, die die wichtigsten ökonomischen Entscheidungen treffen, haben das gesamte Macht- und damit Funktionsnetz einer Gesellschaft in der Hand.« Er argumentiert weiter, dass es eine »Vielfalt von Widerstandspunkten« gibt, weshalb es »nicht den einen Ort der Großen Weigerung – die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs [gibt]. Sondern es gibt einzelne Widerstände […], die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können.«
Diese Sichtweise prägt die in der Privilegientheorie verbreitete Vorstellung, dass jedes Individuum unausweichlich Teil einer Vielzahl von Unterdrückungsbeziehungen ist – was Patricia Hill Collins eine »Matrix der Herrschaft« nennt. Während sie hier und da postmodernistischen Konzepten der Unterdrückung kritisch gegenübersteht, umfasst ihre Theorie der Macht auch Vorstellungen von individuellen Privilegien und zwischenmenschlicher Herrschaft und sie argumentiert, dass »jeder von uns unterschiedlich viele Nachteile und Privilegien aus den vielfältigen Systemen der Unterdrückung bezieht, die unser Leben bestimmen«.
Wer sich mit dem Material zur Privilegientheorie befasst, wird verblüfft sein über die starke Konzentration auf das Individuelle – die vielen Geständnisse der »Privilegierten«, in denen sie beschreiben, wie sie mit ihren Privilegien zu Rande kommen, oder die Ermahnung anderer, ihre Privilegien »zu checken«. Doch trotz der Konzentration auf den persönlichen Wandel erkennen die meisten Privilegientheoretikerinnen an, dass hinter den Privilegien, die den Einzelnen angeblich verliehen werden, größere und strukturelle Ungleichheiten liegen. Michael Kimmel zum Beispiel meint, dass individuelle Lösungen nicht ausreichen: »Ungleichheit ist strukturell und systematisch ebenso wie individuell und haltungsbedingt. Um Ungleichheit zu beseitigen, bedarf es mehr als der Änderung persönlicher Einstellungen.«
Ungleichheiten und Unterdrückungssysteme
Nun ist es zwar richtig festzustellen, dass strukturelle und systemische Ungleichheiten bestehen, es stellt sich jedoch die Frage, warum das so ist. Wenn wir davon ausgehen, dass strukturelle Ungleichheiten und Unterdrückungssysteme nicht im Wirtschaftssystem des Kapitalismus verwurzelt sind, dann können diese systemischen Ungleichheiten als autonome Herrschaftssphären erscheinen. Einige Theoretikerinnen und Theoretiker unternehmen sehr wohl den Versuch, die historischen und wirtschaftlichen Wurzeln der Unterdrückung insbesondere in Bezug auf Rassismus aufzuspüren. Der einflussreiche US-Schriftsteller Tim Wise zum Beispiel geht davon aus, dass der Ursprung des Rassismus mit Kapitalismus und Sklaverei zusammenhängt. Er meint jedoch, dass der Rassismus nach der Sklaverei so tief verankert gewesen sei, dass »weißer Rassismus jetzt einen Autopiloteffekt annehmen kann«, in dem Rassismus nicht wegen der Bedürfnisse der herrschenden Eliten und des Kapitals aufrechterhalten wird, sondern durch Weiße an sich. Rassismus als Machtstruktur löst sich somit von Kapitalismus. Mit dieser Argumentation folgt Wise in vieler Hinsicht dem US-Theoretiker David Roediger, dessen Schriften über »Rasse« hinsichtlich des »Weißseins« und der Privilegien sehr einflussreich sind. Roedigers Theorie stellt eine ernsthafte Herausforderung an die marxistische Theorie dar, und seine Ideen untersetzen einen Großteil der Privilegientheorie, weshalb wir auf seine Position näher eingehen wollen.
Die Theorie vom Weißsein (»Critical Whiteness) beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie das Konzept »weiße« Menschen als getrennte Identität aufkam und welche Implikationen diese Kategorisierung seitdem mit sich brachte. Die Geschichte wird neu zu bewerten versucht, indem untersucht wird, wie diese durch »weiße Identität« und »weiße Privilegien« geprägt wurde. Gleichzeitig wird gefragt, wie »weiß« heute synonym mit »normal« werden konnte und »nicht weiß« den Status des »anderen« erhielt. Viele Anhänger dieser Theorie teilen mit Marxistinnen das Verständnis darüber, wie Konzepte »rassischer« Überlegenheit gesellschaftlich konstruiert wurden, um Diskriminierung und Sklaverei zu rechtfertigen. Während Marxistinnen und Marxisten jedoch begreifen, dass alle Bewusstseinsformen in dem gesellschaftlichen Sein wurzeln, und dass Rassismus wie alle Ideologien durch eine materielle Realität strukturiert wird, glauben viele Theoretikerinnen und Theoretiker der kritische Weißseinsforschung , dass Rassismus weitgehend frei von solchen Beschränkungen sei. Als psychokulturelles Phänomen funktioniere Rassismus vollständig unabhängig von dem System, und jede Vorstellung davon, dass die herrschende Klasse eine besondere Rolle bei dessen Aufrechterhaltung und Entwicklung gespielt hat, wird als grober ökonomischer Determinismus verworfen.
David Roediger und »Critical Whiteness«
David Roediger, der vermutlich einflussreichste Theoretiker in diesem Wissenschaftszweig, sagt, dass »der Großteil des Schrifttums der weißen Marxisten in den Vereinigten Staaten das Weißsein ‘naturalisiert’ und ‘Rasse’ grob vereinfacht« habe. Und um jeden Zweifel auszuräumen betont er: »Die Tatsache, dass Rasse gänzlich ideologisch und historisch geschaffen ist, während Klasse nicht gänzlich so geschaffen wurde, wird oft heruntergebrochen auf die Annahme, dass Klasse (oder ‘das Ökonomische’) realer sei, elementarer, grundlegender oder wichtiger als Rasse, sowohl hinsichtlich des Politischen als auch der historischen Analyse.«
Statt also die Sklavenhändler und Plantagenbesitzer und das ganze produktive, Finanz- und Staatsgebäude, das darüber errichtet wurde, für das Schüren von Rassismus verantwortlich zu machen, sagt Roediger, dass dieser in der entstehenden Arbeiterklasse seinen Ursprung habe. Europäisch-amerikanische Handwerker und Facharbeiter hätten aus Furcht, von den Kapitalisten und ihren Fabriken in Knechtschaft und Fron getrieben zu werden, sich selbst als weiße »Freie« zu definieren begonnen im Gegensatz zu den in Ketten gelegten Schwarzen Sklaven. Das »Weißsein« sei entscheidend, weil es die Grundlage für Rassismus bildete. Tim Wise behauptet deshalb, Weißsein bedeute:»Uns durch ein Negativ zu definieren, uns mit einer Identität auszustatten, die im Äußeren wurzelt – verwurzelt in der relativen Unterdrückung anderer. […] Ungleichheit und Privilegien sind die einzigen wirklichen Komponenten des Weißseins. […] Ohne Rassenprivileg gibt es kein Weißsein, und ohne Weißsein gibt es kein Privileg. Weiß zu sein bedeutet nur, begünstigt zu sein.«
Die Analysen von W.E.B. Du Bois
Roediger behauptet, seine Analyse gehe zurück auf den großen Historiker und Aktivisten W.E.B. Du Bois. In dessen Buch von 1935 über die Zeit der Rekonstruktion nach dem Bürgerkrieg in den USA versuchte Du Bois zu erklären, warum Rassismus über die Arbeitersolidarität zwischen den »Rassen« siegen konnte, und er sprach von einem »psychologischen Lohn«, der dem weißen Arbeiter gezahlt werde: »Sie wurden öffentlich gewürdigt und erhielten Ehrentitel, weil sie weiß waren. Ihnen wurde gemeinsam mit allen Klassen weißer Menschen Zugang zu öffentlichen Funktionen gewährt, zu öffentlichen Parks und den besten Schulen. Die Polizei kam aus ihren Reihen, und die Gerichte, die von ihren Wählerstimmen abhängig waren, behandelten sie mit solcher Nachsicht, dass es Gesetzlosigkeit ermutigte.«
Roediger zitiert diesen Absatz, verwendet ihn aber bewusst missbräuchlich, um seiner Position Glaubwürdigkeit zu verleihen. Du Boisʼ Kernaussage lautet, dass es die Bosse sind, die den psychologischen Lohn zahlen, um Arbeiter zu spalten. Wer sonst sollte ihnen diese Art von »Privilegien« verleihen, von denen Du Bois spricht? Das Ziel dabei war, weißen Arbeitern kleine Zugeständnisse zu machen, damit sie glaubten, dass sie Nichtweißen überlegen seien, um auf diese Weise alle Arbeiter auseinanderzudividieren:»Die Rassentheorie wurde ergänzt mit einer sorgfältig geplanten und langsam entwickelten Methode, mit der solch ein Keil zwischen die weißen und Schwarzen Arbeiter getrieben wurde, dass es möglicherweise heute nirgendwo auf der Welt zwei Gruppen von Arbeitern mit faktisch identischen Interessen gibt, die sich so abgrundtief hassen, sich gegenseitig so anhaltend fürchten und so getrennt voneinander gehalten werden, dass keine Seite die gemeinsamen Interessen erkennen kann.«
Der Historiker Jack M. Bloom bezieht sich angemessener auf Du Boisʼ Konzept des psychologischen Lohns. Er sagt, Rassismus und der Versuch, den Armen das Gefühl zu geben, Angehörige einer überlegenen Kaste zu sein, sei eine Reaktion auf die Angst vor Aufständen von unten gewesen, die die herrschende Klasse im Süden nach dem Bürgerkrieg erschütterten. Er meint, dass die »Plantagenbesitzer und ihre Nachfolger, die Kaufleute-Landbesitzer, fürchten mussten, die Kontrolle zu verlieren. In dieser Zeit befanden sie sich zumeist in der Defensive und sie reagierten darauf mit einem Programm der weißen Überlegenheit, um das Ruder an sich zu reißen.«
Dieses »Programm der weißen Überlegenheit« beinhaltete, den einen kleine Vorteile zu gewähren, während sie gleichzeitig einen Angriff auf das Wahlrecht der Schwarzen planten. Das Gespenst der Schwarzen Vorherrschaft wurde bei jeder Gelegenheit heraufbeschworen. Wenn die weißen Angehörigen der Arbeiterklasse dem Bild entsprochen hätten, das die Theoretikerinnen und Theoretiker des »Weißseins« entwerfen, wäre zu erwarten gewesen, dass die armen Weißen den Versuch der Kaufmanns-Landbesitzer-Klasse, Schwarze aus dem Wählerregister zu streichen, begrüßten. Tatsächlich aber gab es erheblichen Widerstand von oppositionellen Weißen dagegen. Warum? Weil viele Aktivisten der Populisten (People’s Party oder Populist Party) im ausgehenden 19. Jahrhundert begriffen, dass Wahlbeschränkungen sich letztlich gegen sie richteten, weshalb sie nicht auf den Rassismus hereinfielen, mit dem sie geblendet werden sollten. Sie wussten, dass jede Bindung des Wahlrechts an Eigentum oder Steuerzahlung dazu führen würde, auch arme Weiße aus dem Wählerregister zu löschen.
Antirassismus der Arbeiterklasse
Die Vertreterinnen und Vertreter der Critical Whiteness-Theorie können nicht den Antirassismus der Arbeiterklasse erklären, weil Arbeiterinnen und Arbeiter damit anscheinend gegen ihre eigenen Interessen verstoßen, seien sie real oder nur fantasiert. Wenn Arbeiter tatsächlich eine Theorie der Überlegenheit entwickelt haben, die sie daran hindert, die Welt aus einer klassenbewussten und »rassen-«übergreifenden Perspektive zu sehen, warum haben dann so viele von ihnen in Zeiten großer Klassenkämpfe Vorstellungen der Überlegenheit infrage gestellt, die sie vielleicht ihr ganzes Leben lang gehegt hatten?
Jeder Aufschwung von Klassenkämpfen in den USA brachte seine eigene Infragestellung rassistischer Spaltungen hervor: von den Massenstreiks der 1930er Jahre, in denen die Kommunistische Partei wesentlich dazu beitrug, eine Zeit des multikulturellen Gewerkschaftswesens einzuleiten, bis zu den neuen Klassenkämpfen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, in denen Schwarze und weiße Arbeiter und Arbeiterinnen gemeinsam in den Autofabriken, den Häfen und anderen Betrieben streikten. Niemand würde behaupten, dass Rassismus kein ernsthaftes Hindernis für den Klassenkampf ist – egal ob in der Vergangenheit oder heute –, oder dass Siege über den Rassismus immer von Dauer sind. Aber die Geschichte zeigt uns, dass im Verlauf des Kampfs selbst die tiefsten Gräben überwunden werden können. Wie die Vertreter der Theorie des »Weißseins« aber zu behaupten, dass wir erst den Rassismus in den Köpfen der Arbeiter bekämpfen müssen, ehe sie das System bekämpfen können, hält uns in einer Endlosschleife der Verzweiflung gefangen.
Statt Unterdrückung als Ergebnis eines Machtspiels zwischen Individuen zu sehen, die in gegenseitiger Konkurrenz gefangen sind, ist der marxistische Ausgangspunkt ein anderer: Unterdrückung ist verbunden mit der Entstehung der Klassengesellschaft und ist nützlich für die herrschende Klasse, wobei die jeweilige Form der Unterdrückung von der ökonomischen Basis der Gesellschaft geprägt ist. Rassismus wurde von weißen Plantagenbesitzern als Rechtfertigung für die Versklavung Schwarzer Afrikaner entwickelt. Er existierte in deutlich veränderter Form nach dem Ende der Sklaverei fort, weil er eine nützliche Rechtfertigung für koloniale Beherrschung bietet und weil er zur Ablenkung von den wahren Ursachen der Armut, Ausbeutung und des Elends dient.
Michael Reich und »The Economics of Racism«
Der US-Wirtschaftswissenschaftler Michael Reich untersuchte in den 1970er Jahren die Einkommensverteilung in 48 Metropolenregionen und fand heraus: Je größer die Kluft zwischen dem Einkommen von Schwarzen und Weißen war, desto größer auch die Einkommensungleichheit zwischen den Weißen. Je mehr der Rassismus also Arbeiter spaltet, desto mehr profitiert der Kapitalist davon. In »The Economics of Racism« schreibt Reich :»Der Spaltpilz des Rassismus schwächt die Verhandlungsmacht der Arbeiter gegenüber dem Arbeitgeber; die wirtschaftlichen Folgen des Rassismus bestehen nicht nur in einem niedrigeren Einkommen für Schwarze, sondern auch einem höheren Einkommen für die kapitalistische Klasse und niedrigeren Einkommen für weiße Arbeiter. Auch wenn sich die Kapitalisten nicht bewusst verschworen haben, um Rassismus zu erfinden, und auch wenn die Kapitalisten nicht diejenigen sind, die Rassismus hauptsächlich verbreiten, trägt der Rassismus zur ungebrochenen Lebensfähigkeit des amerikanischen kapitalistischen Systems bei.«
Obwohl also das Leben Schwarzer Arbeiter meist deutlich härter ist als das der weißen, schadet der Rassismus den Interessen beider. Das gilt im engsten Sinne, wenn Einkommen, Bildung, Wohnen und so weiter verglichen werden – wie auch im weiteren Sinne, weil Rassismus ein Hindernis für das Zustandekommen eines vereinten und wirksamen, auf Solidarität beruhenden Klassenkampfs ist. Es dürfte klar sein, dass Rassismus im Interesse des kapitalistischen Systems liegt. Das heißt jedoch nicht, dass Marxistinnen meinen, all diese Spaltungen seien von der herrschenden Klasse in einer groß angelegten Verschwörung konstruiert worden.
Diese Ideen sickern in die Gesellschaft ein und entfalten eine gewisse Unabhängigkeit von der ökonomischen Basis, sind jedoch zugleich von dieser beschränkt. Friedrich Engels schrieb:»Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, dass die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.«
Privilegientheorie und Klassen
Aber was ist mit all den Rivalitäten, Eifersüchteleien und regelrechten Vorurteilen, die wir unter vielen Arbeitern finden können? Tim Wise argumentiert: »Bevor das Klassensystem grundlegend verändert werden kann, müssen wir den weißen Rassismus angreifen und erheblich zurückdrängen.« Damit drehen wir uns im Kreis: Weiße Arbeiter können die Gesellschaft nicht verändern, weil sie zu rassistisch sind, sie sind jedoch rassistisch, weil sie nicht in der Lage waren, die Gesellschaft zu verändern. Marxʼ Antwort darauf lautete, dass der Kampf selbst eine wichtige Rolle bei dem Aufbrechen des Einflusses reaktionärer Ideen und bei gesellschaftlicher Veränderung spielt. Weil der Kapitalismus die Arbeiter dazu zwingt, selbst für die grundlegendsten Dinge des Lebens zu kämpfen, kommt es zum Klassenkampf, in dem Ideen geprüft und geklärt werden. Für Marx hat der Kampf reinigende Wirkung. In den »Thesen über Feuerbach« schreibt er: »Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist. […] Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.«
Für Marxistinnen und Marxisten ist der Klassenkampf ein fruchtbares Terrain, all die rückständigen Ideen, die uns umgeben, potenziell infrage zu stellen – vorausgesetzt, dass es Individuen und Gruppen gibt, die eben dies entschlossen angehen. Die meisten Vertreterinnen und Vertreter der Privilegientheorie glauben hingegen, dass Privilegien nicht etwas sind, das man loswerden kann. Deshalb konzentrieren sich die Vertreter der Privilegientheorie auf Bildung und Bewusstsein.
Natürlich ist es nicht falsch, wenn wir unsere Einstellungen und unsere Beziehungen mit anderen selbstkritisch beleuchten. Und es ist auch richtig, etwas gegen alle Äußerungen der Unterdrückung in unserem Verhalten, der Sprache und Haltung zu tun. Aber der Kampf gegen tiefe systembedingte Spaltungen wie Rassismus kann sich nicht allein auf die individuelle Selbstreflexion einer gewissen Anzahl progressiver Individuen stützen.
Die Privilegientheorie und der Kampf gegen Rassismus
Die Privilegientheorie neigt dazu, politische Argumente auf einen moralischen Appell und persönliche Gefühle zu reduzieren. Doch der Versuch, Ideen in uns selbst und in anderen zu verändern, bevor eine bedeutende Infragestellung größerer struktureller Ungleichheiten möglich ist, führt auf den falschen Weg. Die meisten Menschen, die den Kampf aufnehmen, haben eine Mischung widersprüchlicher Ideen im Kopf. Sie akzeptieren vielleicht einige reaktionäre Ideen und lehnen andere ab. Gerade im Kampf für Veränderung entwickeln die meisten Menschen neue Einsichten in die Funktionsweise des Kapitalismus, und alte Annahmen und Vorurteile können abgebaut werden. Denn im Kampf für Veränderung geraten die direkten Erfahrungen der Menschen am schärfsten in Konflikt mit der von den Institutionen des Kapitalismus propagierten Weltsicht.
Wenn wir das verstehen, gibt es auch die Möglichkeit, andere von der Notwendigkeit der Klasseneinheit als wirksamster Weg des Widerstands zu überzeugen. Natürlich stellt sich Klasseneinheit nicht automatisch her und viele Angehörige der Arbeiterklasse fallen weiterhin auf Spaltungspolitik und Lügen herein. Deshalb brauchen wir einen politischen Kampf, nicht nur gegen die herrschende Klasse, sondern mit anderen in unserer eigenen Klasse. Aber indem sie weiße Aktivisten in eine Verteidigungshaltung in Bezug auf ihre Beteiligung an dem Kampf gegen Rassismus drängt, läuft die Privilegientheorie Gefahr, mögliche Verbündete zu vergraulen und Migrantinnen allein in ihrem Kampf zu lassen.
Für einige der heute in Bewegung Aktiven ist die Privilegientheorie in erster Linie eine Möglichkeit, den Widerstand gegen Unterdrückung zum Ausdruck zu bringen. Das kann ein guter Ausgangspunkt sein und drückt Bedenken aus, die wir teilen, aber es ist kein Rahmen, der die Kämpfe voranbringen kann. In dieser Situation hat die Linke große Verantwortung, sowohl mit anderen zusammenzuarbeiten, um all die vielen Kämpfe gegen Unterdrückung so lebendig und breit wie möglich zu gestalten, als auch für eine Politik und eine Strategie zu kämpfen, mit der wir gewinnen können.
Zum Text: Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning. Zuerst auf Englisch erschienen in International Socialism 142 unter dem Titel: »What’s wrong with privilege theory?« aus dem Jahre 2014. Der Text ist eine gekürzte und leicht aktualisierte Version des Textes. Die Langversion des Artikels »Der Irrweg der Privilegientheorie« gibt es auf Deutsch hier.
Foto: Johnny Silvercloud
Schlagwörter: Antirassismus, Rassismus