Um den Kern des Imperialismus zu verstehen, beobachteten Lenin und Bucharin die internationalen Zusammenhänge hinter und um den Ersten Weltkrieg. Chris Harman stellt ihre Theorien vor.
Ein Auszug aus seinem Buch »Imperialismus – Vom Kolonialismus bis zu den Kriegen des 21. Jahrhunderts« von Chris Harman
Was ist Imperialismus?
Es herrscht nicht immer Klarheit darüber, was Imperialismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts bedeutet. Einigen gilt er als Höhepunkt der Entwicklung des Kapitalismus über die letzten zweieinhalb Jahrhunderte – das »höchste Stadium« des Systems. Für andere bedeutet er einfach nur den Schacher um profitable Rohstoffe oder Investitionen, der für das System an sich durchaus verzichtbar wäre, oder die Jagd nur einer Sektion der herrschenden Klasse der USA, des militärisch-industriellen Komplexes, nach Erhöhung seiner Profite. Einige behaupten sogar, dass es sich um eine historisch überholte Praxis bestimmter politischer Führer:innen im Widerspruch zur Dynamik des Systems als Ganzes handele, wenn Staaten andere Staaten zu erobern suchen.
Michael Hardt zum Beispiel, Mitautor des höchst einflussreichen Buches Empire, schreibt, dass sich »die USA sehr schnell zu einer imperialistischen Macht entlang des alten europäischen Modells entwickeln, allerdings auf Weltebene«. Er beeilt sich jedoch hinzuzufügen: »Konzernchefs rund um den Globus erkennen, dass Imperialismus schlecht für das Geschäft ist, weil er Schranken aufbaut, die die globalen Kapitalströme behindern«.i
Und Bernard Cassen, führend bei Attac Frankreich und eine Schlüsselperson des Weltsozialforums, behauptete kurz vor dem Angriff auf den Irak: »Ob Krieg ausbricht oder nicht, B-52 Bomber und Spezialeinheiten werden an der Armut in Brasilien oder dem Hunger in Argentinien nichts ändern.«
Diese Meinungsunterschiede bestanden zwischen Menschen, die sich sonst darin einig waren, Widerstand gegen das neue aggressive Vorgehen des weltweit mächtigsten – und gefährlichsten – Staates zu leisten. Sie bleiben jedoch wichtig, denn sie bestimmen, wie wir langfristig den Imperialismus bekämpfen.
Wenn Imperialismus nur eine Reihe staatlicher Handlungen ist, die von der Gesamtdynamik des Systems abgekoppelt sind, dann kann das Ausüben von Druck, um den Staat zu reformieren, den Frieden bringen. Es ist möglich, die Triebfeder für Krieg als etwas der allgemeinen Ausrichtung des Systems Zuwiderlaufendes zu betrachten – egal ob dieses, wie von den Verteidiger:innen des Systems, »Freihandel« genannt wird oder »Empire«, wie einige Gegner:innen sagen. Wenn der Imperialismus jedoch organisch mit dem Gesamtsystem verbunden ist, muss das System gestürzt werden, um die Bedrohung zu beseitigen.
Klassische Theorien über den Imperialismus
Was sind die klassischen Theorien über den Imperialismus? In Lenins Broschüre »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« findet sich die bekannteste Darstellung der zentralen Rolle des Imperialismus für das System. Geschrieben wurde sie mitten im Ersten Weltkrieg. Die Schrift sollte in »gemeinverständlicher Form« zeigen, wie der Rückgriff auf Krieg ein Ergebnis des »jüngsten Stadiums des Kapitalismus« – so der ursprüngliche Untertitel – war:
»Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Hand voll »fortgeschrittener« Länder geworden. Und diese »Beute« teilen sich zwei, drei weltbeherrschende, bis an die Zähne bewaffnete Räuber (Amerika, England, Japan), die die ganze Welt in ihren Krieg um die Teilung ihrer Beute mit hineinreißen.«
Er weist darauf hin, dass die kapitalistischen Mächte sich die Welt auf der Grundlage der »Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke« aufgeteilt haben.
»Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben«.
Eine Aufteilung der Welt, die der relativen Stärke der großen Mächte zu einem bestimmten Zeitpunkt entspricht, wird in ein paar Jahrzehnten schon wieder ganz anders aussehen. Die Aufteilung der Welt führt zu weiteren Kämpfen um die Neuaufteilung der Welt:
»Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.«
»Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«
Lenins Theorie bezog sich nicht nur auf militärische Konflikte zwischen Großmächten. Er behauptete, dass diese Konflikte ein Ergebnis der Veränderung des Kapitalismus selbst seien:
»Vor einem halben Jahrhundert, als Marx sein »Kapital« schrieb, erschien der überwiegenden Mehrheit der Ökonomen die freie Konkurrenz als ein »Naturgesetz«. […] [Marx] bewies, daß die freie Konkurrenz die Konzentration der Produktion erzeugt, diese Konzentration aber auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung zum Monopol führt. Das Monopol ist jetzt zur Tatsache geworden [, …] die Entstehung der Monopole [ist] infolge der Konzentration der Produktion überhaupt ein allgemeines Grundgesetz des Kapitalismus in seinem heutigen Entwicklungsstadium […].
Für Europa läßt sich die Zeit der endgültigen Ablösung des alten Kapitalismus durch den neuen ziemlich genau feststellen: Es ist der Anfang des 20. Jahrhunderts. Das ist schon etwas ganz anderes als die alte freie Konkurrenz zersplitterter Unternehmer, die nichts voneinander wissen und für den Absatz auf unbekanntem Markte produzieren. Die Konzentration ist so weit fortgeschritten, daß man einen ungefähren Überschlag aller Rohstoffquellen (beispielsweise der Eisenerzvorkommen) in dem betreffenden Lande und sogar, wie wir sehen werden, in einer Reihe von Ländern, ja in der ganzen Welt machen kann. Ein solcher Überschlag wird nicht nur gemacht, sondern die riesigen Monopolverbände bemächtigen sich dieser Quellen und fassen sie in einer Hand zusammen. Es wird eine annähernde Berechnung der Größe des Marktes vorgenommen, der durch vertragliche Abmachungen unter diesen Verbänden »aufgeteilt« wird. Die qualifizierten Arbeitskräfte werden monopolisiert, die besten Ingenieure angestellt, man bemächtigt sich der Verkehrswege und -mittel – der Eisenbahnen in Amerika, der Schiffahrtsgesellschaften in Europa und in Amerika.«
Lenins Theorie
Wenn dieses Stadium jedoch erreicht ist, beruht die Konkurrenz zwischen den großen Kartellen nicht länger mehr nur – oder hauptsächlich – auf den alten reinen Marktmethoden. Um vor den Konkurrenten Kontrolle über Rohstoffe zu gewinnen, wird ihnen der Zugang zu Transportmöglichkeiten abgeschnitten, Waren werden unter Preis verkauft, um die Konkurrenten aus dem Geschäft zu drängen, ihnen wird der Zugang zu Krediten verwehrt – all diese Mittel werden eingesetzt: »Wir haben es nicht mehr mit dem Konkurrenzkampf kleiner und großer, technisch rückständiger und technisch fortgeschrittener Betriebe zu tun. Durch die Monopolinhaber werden alle diejenigen abgewürgt, die sich dem Monopol, seinem Druck, seiner Willkür nicht unterwerfen.« Weiter heißt es: »Die Monopole sind überall Träger monopolistischer Prinzipien: An Stelle der Konkurrenz auf offenem Markt tritt die Ausnutzung der »Verbindungen« zum Zweck eines profitablen Geschäftes.« viii
Und die wichtigsten Verbindungen sind jene, die die Monopole eines bestimmten Landes mit seinem Staat verknüpfen. Lenin belegt seine Darstellung mit den Geschehnissen in vier Großindustrien: Stahl und Zink, Petroleum- und Elektroindustrie und der Handelsschifffahrt Europas und Nordamerikas. Daraus schlussfolgert er, dass die Entwicklung des Monopols im Inland seine logische Entsprechung im Einsatz der Staatsmacht selbst findet, um im Ausland Einfluss zu gewinnen. Der Konkurrenzkampf zwischen den Monopolen wurde zu einem zwischen ihren Staaten um die Kontrolle der verschiedenen Weltteile:
»Die Kapitalisten teilen die Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit unter sich auf, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profite zu erzielen; dabei wird die Teilung »nach dem Kapital«, »nach der Macht« vorgenommen – eine andere Methode der Teilung kann es im System der Warenproduktion und des Kapitalismus nicht geben.«
Die ökonomische Aufteilung der Welt
»Die Epoche des jüngsten Kapitalismus zeigt uns, daß sich unter den Kapitalistenverbänden bestimmte Beziehungen herausbilden auf dem Boden der ökonomischen Aufteilung der Welt, daß sich aber daneben und im Zusammenhang damit zwischen den politischen Verbänden, den Staaten, bestimmte Beziehungen herausbilden auf dem Boden der territorialen Aufteilung der Welt, des Kampfes um die Kolonien, des Kampfes um das Wirtschaftsgebiet«.
Das äußerte sich in der Aufteilung der Welt in große Reiche – Großbritannien, Frankreich, Russland, Belgien und die Niederlande teilten zu Lenins Zeiten fast ganz Asien und Afrika unter sich auf. Lenin betonte jedoch, dass Imperialismus mehr als nur die Teilung der »Dritten Welt«, wie wir heute sagen, zwischen Großmächten beinhaltete. Er kritisierte Karl Kautsky, weil dieser schrieb: »Der Imperialismus […] besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer größeres agrarisches Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird.«
Lenin unterstrich, dass die imperialistische Teilung der Welt sich zunehmend auf industrialisierte Gebiete konzentrierte:
»Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen)«.
Bucharin über den Imperialismus
Lenins Genosse bei den Bolschewiki, Bucharin – dessen »Imperialismus und Weltwirtschaft« kurz vor Lenins Broschüre geschrieben wurde, aber erst danach mit einer Einführung von Lenin erschien – trug dieses Argument ebenso nachdrücklich vor:
»Aus der Konkurrenz zahlreicher individueller Unternehmen verwandelte er [der Konkurrenzkampf, Anm. d. Red.] sich in eine erbitterte Konkurrenz einiger gewaltiger kapitalistischer Vereinigungen, die eine komplizierte und in bedeutendem Maße im Voraus berechnete Politik betreiben. Endlich hört die Konkurrenz in dem ganzen Produktionszweig auf […]. Der Zentralisationsprozess entwickelt sich Schritt für Schritt weiter. Gemischte Unternehmungen und Bankkonzerne fassen die gesamte nationale Produktion zusammen, die die Form eines Verbandes der Verbände annimmt und sich somit in einen staatskapitalistischen Trust verwandelt. Die Konkurrenz erreicht die höchste und letzte denkbare Entwicklungsstufe: die Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts auf dem Weltmarkt. In den Grenzen der »nationalen« Wirtschaften wird sie auf ein Minimum reduziert, aber nur, um in gewaltigem, in keiner der vorhergehenden Epochen möglichen Umfange aufs Neue zu entbrennen […].
Der Schwerpunkt liegt jetzt in der Konkurrenz von gewaltigen, geschlossenen und organisierten wirtschaftlichen Organismen, die aber über eine kolossale Kampfkraft im internationalen Wettbewerb der »Nationen« verfügen […]. Die imperialistische Annexion ist somit ein Sonderfall der allgemeinen kapitalistischen Tendenz zur Zentralisation des Kapitals […].
»Tendenz zur Zentralisation des Kapitals«
Zwei Arten der Zentralisation können unterschieden werden: die erste Art, wenn eine wirtschaftliche Einheit eine andere verschluckt, die ihr ähnlich ist; der zweite Fall ist die vertikale Zentralisation, wenn die betreffende wirtschaftliche Einheit eine andere verschluckt, die nicht von der gleichen Art ist. […] Als Beispiel einer horizontalen imperialistischen Annexion kann die Eroberung von Belgien durch Deutschland [im Ersten Weltkrieg], als Beispiel einer vertikalen Annexion die Besetzung von Ägypten durch England dienen. Trotzdem wird der Imperialismus gewöhnlich als bloße koloniale Eroberungspolitik behandelt […]. Jetzt aber bricht die Zeit einer wahren Weltumverteilung an […]. Auch das Gebiet der Metropole [wird] in den Prozess der Umverteilung einbezogen.«
Die Kräfte hinter dem Ersten Weltkrieg erklären
Lenin und Bucharin schrieben ihre Arbeiten während des Ersten Weltkriegs, und ihre Absicht war, die hinter diesem Krieg wirkenden Kräfte zu erklären. Ihre fortdauernde Stärke liegt darin, dass sie wie keine anderen eine Erklärung dessen bieten, was der »Dreißigjährige Krieg« des 20. Jahrhunderts genannt wurde – die großen militärischen Zusammenstöße, die Europa zerrissen und für 50 Millionen Tote und Verwüstung vom Ärmelkanal bis zur Wolga verantwortlich waren und in diesem Mahlstrom bis in die entferntesten Winkel der Welt hunderte Millionen Menschen ins Elend rissen.
Diese Erklärung war ein Anstoß für Kriegsgegner:innen in Europa und Nordamerika, nicht nur die Militaristen anzugreifen, sondern das ganze ökonomische System. Sie spornte eine ganze Generation Menschen an, die darum kämpften, die Fesseln des Kolonialismus in der sogenannten Dritten Welt abzuschütteln und eine gewisse Interessensgleichheit mit den Arbeiter:innenbewegungen der entwickelten Länder zu sehen.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: »Imperialismus – Vom Kolonialismus bis zu den Kriegen des 21. Jahrhunderts« von Chris Harman. Bestellbar über editionaurora.de
Zur Frage, was ist Antiimperialismus siehe unseren FAQ.
Schlagwörter: Bucharin, Erster Weltkrieg, Imperialismus, Lenin