Nach jedem Anschlag beginnt die Diskussion um eine weitere Verschärfung der »Anti-Terror-Gesetze«. Doch die »Anti-Terror-Maßnahmen« bringen keine Sicherheit, sondern höhlen die Grundrechte aus und schüren Rassismus. Ein Gespräch mit dem Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz über vermeintliche Hassprediger, den autoritären Sicherheitsstaat und die größten Gefährder der Demokratie
Ob in Großbritannien, Frankreich oder in Deutschland: Nach jedem Terroranschlag behaupten Politikerinnen und Politiker aller etablierten Parteien, der Sicherheitsapparat müsse massiv gestärkt werden, um der »Gefahr des Terrorismus« wirksam begegnen zu können. Haben sie Recht?
Nein, so werden die Ursachen des Terrorismus nicht beseitigt. Im Gegenteil: Es besteht die Gefahr, dass sich die Gewaltspirale weiterdreht. Für mich sind die wesentlichen Ursachen klar, nämlich eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung, der damit verbundene ökologische Raubbau in den Ländern des Südens und vor allem die Militärinterventionen und Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien. Ein wirklich wirksamer erster Schritt im Kampf gegen den Terrorismus wäre, dass der Westen seine Kriege im Nahen und Mittleren Osten beendet und alle Rüstungsexporte stoppt.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) mahnt aber permanent zur Eile und behauptet: »Angesichts der Gefährdungslage haben wir keine Zeit zu verlieren« …
Einspruch! De Maizière betreibt doch hier das Geschäft mit der Angst. Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung verfolgt er eine Politik, die in keinem Verhältnis mehr zur tatsächlichen Bedrohung durch terroristische Organisationen steht. Politisch motivierte Anschläge sind ja kein neues Phänomen. Wenn man die Zahlen der Terroropfer in Europa vergleicht, dann waren die 1970er und 1980er Jahre deutlich schlimmer. In Deutschland ist es wahrscheinlicher, an einer Fischgräte zu ersticken als bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen. Für mich steht fest: Die größte Bedrohung der Demokratie geht in Deutschland gegenwärtig nicht von äußeren »Feinden der Demokratie« oder »Islamisten« aus, sondern von dem umfassenden Aufbau eines autoritären Sicherheitsstaates, mit dem vorgegeben wird, die Demokratie gegen »Terroristen« schützen zu wollen. Maßgebliche Kräfte in der Regierung und den Sicherheitsapparaten sind dabei, diesen autoritären Sicherheitsstaat in den Zustand eines permanenten Notstands zu versetzen. Das dient der Herrschaftssicherung angesichts zunehmender Krisen und Kriege sowie der weltweit massiv anwachsenden sozialen Spaltung.
Der Innenminister behauptet, dass der Staat der »freien Bürgergesellschaft« nicht konträr gegenübersteht, er sei ihr »Instrument«: »Der demokratische Staat schützt die Freiheit, er bedroht sie nicht.«
Das sehe ich anders. In Deutschland findet seit Jahren ein systematischer Zersetzungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte statt. Schon die ersten sogenannten Anti-Terror-Pakete, die noch unter der rot-grünen Regierung verabschiedet wurden, lehnten nahezu alle Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen zu Recht als »Katastrophe« ab. Mittlerweile haben die verschiedenen Behörden ein bedrohliches Arsenal an Möglichkeiten.
Und die wären?
Die alle aufzulisten, würde leider den Rahmen des Interviews sprengen. Das reicht von der Vorbeugehaft oder der Zulässigkeit des Einsatzes verdeckter Ermittler und deren Verwertung im Strafprozess ohne Zeugenaussagen über beschleunigte Strafverfahren und kleine und große Lauschangriffe sowie Telefonüberwachungen und Rasterfahndungen bis hin zur Isolationshaft. Die Sicherheitsgesetze in Deutschland gehören bereits jetzt zu den schärfsten in der EU. Und mit jedem verabschiedeten »Sicherheitspaket« können die staatlichen Behörden immer hemmungsloser in die Grundrechte eingreifen.
Ist überhaupt bekannt, wie viele Telefongespräche in Deutschland überwacht werden?
Nein, natürlich nicht. Die von Auslandsgeheimdiensten oder »privaten Sicherheitsdiensten« belauschten Gespräche werden ja überhaupt nicht erfasst. Aber bereits vor den Anschlägen des 11. September 2001 war Deutschland mit einer offiziellen Zahl von 1,5 Millionen abgehörten Telefongesprächen schon Weltmeister.
Heute wird dies um ein Vielfaches übertroffen. Denn die seitdem verabschiedeten »Anti-Terror-Gesetze« haben systematisch das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis unterminiert. Heute können staatliche Behörden viel leichter Telefongespräche abhören oder E-Mails und Kurzmitteilungen mitlesen.
Aber wenn ich nichts Ungesetzliches getan habe, brauche ich doch auch keine Angst vor einer Telefonüberwachung zu haben?
Diese Ansicht ist sicher weit verbreitet. Sie verkennt aber die großen Fehlerquellen bei Abhöraktionen. Denn beim Abhören sind ja keine klärenden Nachfragen möglich. Deshalb kommt es teilweise zu grotesken Missverständnissen, die zu schweren Nachteilen für die Abgehörten führen. Ein Beispiel: In einem »Terroristen-Prozess« habe ich einen PKK-Anhänger vertreten.
Als zentrales Beweismittel wurde dort ein schriftlicher »Wochen-Küchen-Dienstplan« mit den Namen der Angeklagten vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft hat ihn in einen Plan zum Bewachen eines angeblich entführten und gefangenen Abweichlers uminterpretiert.
Aber das ist doch ein Einzelfall!
Keineswegs. Außerdem haben die Enthüllungen von Edward Snowden gezeigt, dass die Telefonüberwachung nicht isoliert betrachtet werden kann. Sie ist Teil des massiven Ausbaus der staatlichen präventiven Überwachung. Erst vor zwei Jahren hat die Bundesregierung die Vorratsdatenspeicherung beschlossen und damit zugelassen, dass die Daten von Millionen ohne Anlass abgegriffen werden. Zudem müssen Provider vier Wochen lang die Aufenthaltsorte ihrer Nutzer für die Strafverfolgungsbehörden bereithalten.
Was ist daran schlimm?
Die staatlichen Behörden können von jedem Nutzer einsehen, mit wem er wann wie lange telefoniert hat und so ein Bewegungs- und Kontaktprofil erstellen. Wer wissen will, wohin das führt, kann das beim Grünen-Politiker Malte Spitz beobachten. Er hat sechs Monate seiner Vorratsdaten von der Telekom eingeklagt und die Daten auf »Zeit Online« veröffentlicht. All diese Maßnahmen haben weitreichende Folgen für das informationelle Selbstbestimmungsrecht von uns allen. Und: Wissenschaftliche Studien fanden heraus, dass das Bewusstsein, abgehört beziehungsweise überwacht zu werden, bei vielen Menschen zu passiven Änderungen im Verhalten und in der Einstellung gegenüber staatlichen Institutionen führt.
Gibt es eine »Erfolgskontrolle« über die getroffenen Maßnahmen zur Ausweitung der Überwachung?
Schön wär’s! Das haben Anwältinnen und Anwälte immer wieder gefordert, aber die Bundesregierung ignoriert es. Allerdings hat die Internationale Juristenkommission bereits 2009 in einer dreijährigen Studie in vierzig Ländern den Effekt von »Antiterrormaßnahmen« untersucht. Ihre Bilanz ist erschütternd: Es sei in vielen Teilen der Welt zu Folter, willkürlichen Inhaftierungen, unfairen Prozessen, langen Haftdauern ohne Prozess, ja zu einer »Militarisierung der Justiz« und zur Straffreiheit für schwere Menschenrechtsverletzungen gekommen. Das beunruhigende Fazit des Berichts lautet: »Außerordentliche Maßnahmen, die gegen den Terrorismus gerichtet sind, sickern bereits in den Normalbetrieb des Staats und das alltägliche Justizsystem ein. Mit langfristigen Konsequenzen für den Rechtsstaat und die Achtung von Menschenrechten.« Und aus den USA wurde bekannt, dass die Behauptung der dortigen Sicherheitsbehörden, durch verstärkte Überwachung und andere Repressionsinstrumente Dutzende von Terror-Anschlägen verhindert zu haben, eine dreiste Propagandalüge ist, wie ein engagierter Parlamentarier durch hartnäckiges Nachbohren feststellen konnte.
Was bedeuten die beschlossenen Anti-Terror-Gesetze für Menschen ohne deutschen Pass?
Für Muslime oder Menschen, denen die Zugehörigkeit zu dieser Religion zugeschrieben wird, nichts Gutes: Sie stehen unter Generalverdacht. Menschen ohne deutschen Pass können unter erleichterten Voraussetzungen und mit verkürztem Rechtsschutz ausgewiesen und abgeschoben werden. Aber damit nicht genug. Gegen sie können Aufenthaltsbeschränkungen, Meldeauflagen, Ausreiseverbote und sogar Verbote verhängt werden, mit bestimmten Personen Kontakt aufzunehmen. Zudem kann die Verlängerung des Aufenthaltsstatus von Verhören – beschönigend »Sicherheitsgespräche« genannt – abhängig gemacht werden. Das erinnert stark an die Kommunistenverfolgung der 1950er Jahre in der McCarthy-Ära in den USA.
Wir sollten uns nicht täuschen lassen: Die Geschichte lehrt, dass solche Instrumente – einmal erfolgreich an einer zum Feind erklärten Minderheit erprobt – auch auf andere missliebige Teile der Bevölkerung angewandt werden können.
Die Bundesregierung warnt in letzter Zeit immer öfter vor »islamistischen Gefährdern«. Der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich definierte diese in einem Zeitungsinterview als »Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie erhebliche Straftaten begehen könnten«. Wie siehst du diese Definition aus juristischer Sicht?
Meiner Meinung nach ist das der katastrophale Versuch, wichtige Grundrechte wie die Gleichheit vor dem Gesetz, die Vereinigungsfreiheit und vor allem die Religionsfreiheit auszuhebeln. Das betrifft vor allem Strafverfahren und ausländerrechtliche Verfahren, aber auch Verbotsverfahren gegen religiöse Vereinigungen.
Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister Heiko Maas fordern trotzdem Abschiebehaft und Fußfesseln für »Gefährder«. Immerhin war der mutmaßliche Attentäter Anis Amri auch als ein solcher eingestuft …
Unter dem Vorbehalt weiterer Erkenntnisse, insbesondere über geheimdienstliche Verwicklungen auch in diesem Fall: Warum sollte eine Fußfessel in Deutschland solche Anschläge verhindern, wenn das schon in Frankreich nicht gelang? Dort wurde diese Maßnahme schon lange vor den letzten Anschlägen angewandt. Ganz abgesehen davon: Schon nach geltenden Vorschriften hätte im Fall Amri die Abschiebehaft verhängt werden können. Trotzdem findet jetzt ein regelrechter Überbietungswettbewerb nach weiteren Gesetzesverschärfungen statt. Das ist absurd.
Wird die Gefahr eines »islamistischen Terrorismus« übertrieben?
Ich meine: eindeutig ja. Zum einen gibt es bei manchen Anschlägen noch viele offene Fragen, ob tatsächlich organisierte »islamistische Terroristen« verantwortlich gemacht werden können. Zwar reklamiert oft der »Islamische Staat« die Anschläge in Europa für sich. Aber die französischen Behörden haben beispielsweise keine eindeutigen Verbindungen zwischen Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, dem Massenmörder von Nizza, und dem IS gefunden. Der Attentäter war nicht religiös und kein Mitglied einer Terrorgruppe. Zum anderen ist das Bild falsch, das Sicherheitsbehörden und selbsternannte Terrorismus-Experten zeichnen, »der Salafismus« sei »die schlimmste Bedrohung unserer Zeit«. Tatsächlich handelt es sich bei »dem Salafismus« um ein Konstrukt westlicher Geheimdienste.
Aber es gibt doch salafitische Strömungen im Islam?
Sicher, aber genauso wie islamische Gläubige im Allgemeinen keine homogene Gruppe bilden, obwohl sie sich alle auf den Koran berufen, ist auch die salafitische Glaubensgemeinschaft keine homogene Gruppe. Die als besondere Bedrohung dargestellten Dschihadistinnen und Dschihadisten befürworten Gewaltanwendung im Namen Gottes, sind aber selbst in der salafitischen Gemeinschaft nur eine Minderheit. Im Salafismus gibt es zahlreiche Strömungen, die entweder ausdrücklich völlig unpolitisch sind oder jedenfalls gewaltsame und terroristische Aktivitäten prinzipiell ablehnen und dagegen kämpfen.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Davon gibt es eine Menge. Eindrucksvoll war für mich der offene Brief von 120 Rechtsgelehrten, auch aus den arabischen Ländern, die hier als »salafistisch« gelten, an Bagdadi, den selbsternannten Kalifen des »Islamischen Staates«. Darin verurteilen sie dessen »Dschihadismus« als fundamentalen Verstoß gegen den Islam und widerlegen seine terroristischen Aktivitäten aus theologischer Sicht. Doch dieser veröffentlichte und über das Internet in der ganzen Welt verbreitete Brief wird hierzulande von Experten, den meisten Politikerinnen und Politikern und den Massenmedien systematisch unterschlagen.
Warum?
In der Politik und den Massenmedien fungiert die gegenwärtige zum Teil hysterische Debatte über »den Salafismus« als Ablenkungsmanöver. Die eigentliche Funktion des rassistischen Feindbilds Islam ist es, die Bevölkerung zu spalten. Gäbe es die Muslime nicht, die zum Sündenbock der sozialen Probleme in der gegenwärtigen Krise gemacht werden können, wären es die Roma und Sinti, die Obdachlosen, Hartz-IV-Betroffene oder eine andere Randgruppe. Ich halte es für eine Überlebensfrage für unsere Demokratie, den antimuslimischen Rassismus zurückzudrängen.
Der ehemalige SPD-Chef und jetzige Außenminister Sigmar Gabriel fordert trotzdem: »Salafistische Moscheen müssen verboten, die Gemeinden aufgelöst und die Prediger ausgewiesen werden, und zwar so bald wie möglich«. Als Anwalt hast du mehrere Mandanten vertreten, denen die Staatsanwaltschaft vorgeworfen hat, »Hassprediger« zu sein. Konnte sie ihre Beschuldigungen vor Gericht beweisen?
In den von mir vertretenen Verfahren keineswegs. Im Gegenteil: In mehreren Verfahren gelang es uns nachzuweisen, dass es sich um haltlose Anschuldigungen handelt.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Im Fall eines Bremer Imams ermittelte die Staatsanwaltschaft unter anderem wegen »Sammlung von Spendengeldern für die Mujahedin« sowie »Anschlagsplanungen auf jüdische Einrichtungen in Deutschland«. Wir konnten jedoch nachweisen, dass das Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung auf den frei erfundenen Denunziationen eines mutmaßlichen Agenten aus seinem Heimatland Tunesien beruhte. Bei der Durchsicht der Ermittlungsakten kam heraus, dass der deutsche und der französische Geheimdienst mit diesem bezahlten V-Mann solange intensiv zusammengearbeitet hatten, bis das Ganze durch einen Zufall aufflog.
Wie bitte?
Ja, es war ein bezahlter V-Mann, der die unbegründeten Vorwürfe gegen meinen Mandanten erhob. Das ist übrigens kein Einzelfall. Schon beim parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Murat Kurnaz kam heraus, dass der Bremer Verfassungsschutz jahrelang einen V-Mann eingesetzt hatte, der in der Behörde den internen Spitznamen »Lügenbaron« erhielt. Offenbar hatte der Mann einen Hang dazu, sich mit erfundenen Geschichten wichtig zu machen, so dass er deshalb sogar später »abgeschaltet« wurde. Der »Weser-Kurier« deckte damals auf, dass Berichte von V-Männern umgeschrieben wurden: »Aus Konjunktiven seien Indikative geworden, aus indirekter Rede Tatsachenbehauptungen, aus vagen Gerüchten harte Fakten.« Für mich zeigt das, wie gefährlich die V-Mann-Praxis ist.
Wie ist denn der Fall des Bremer Imams ausgegangen?
Das von mir eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen den V-Mann wurde dann auch eingestellt, weil der Geheimdienst-agent nicht identifizierbar sei. Und das, obwohl doch die Ermittlungsbehörden und vermutlich auch der Verfassungsschutz längere Zeit intensiv mit ihm zusammengearbeitet haben. Eine Entschädigung für das Ermittlungsverfahren erhielt der Imam trotzdem nicht.
Foto: James O’Hanlon
Schlagwörter: Analyse, Anschlag, Anti-Terror-Krieg, Bundesregierung, Inland, marx21, Polizei, Terror, Thomas de Maizière