In der Kommunismus-Debatte melden sich Theoretiker zu Wort, die der sowjetischen Politik »historische Notwendigkeit« bescheinigen. Das grenzt an Geschichtsblindheit. Von Arno Klönne
Heutige Sozialisten oder Kommunisten müssten »zu erklären versuchen, wie es dazu kommen konnte, dass eine tief humanistische Idee zu einer Wirklichkeit verkam, die in die Geschichte der Barbarei gehört«, schrieb der Historiker Kurt Pätzold kürzlich in einem Beitrag für die Tageszeitung junge Welt. Gemeint war der Staatsterrorismus in der UdSSR zu Zeiten Stalins. Daraufhin klagte in demselben Blatt der Philosoph Hans Heinz Holz, Hegel-Experte und Kommunist, Kurt Pätzold des »moralisierenden Geschwätzes« an. Zwar seien den »harten Maßnahmen« des stalinistischen Regimes »auch Unschuldige« zum Opfer gefallen, aber zu bedenken seien historische Notwendigkeiten des »härtesten Klassenkampfes«, einer »Konsolidierung der Macht«, einer »rigiden Durchführung der Neuordnung«. Holz berief sich zitierend auf Hegel: »Eine welthistorisch (…) große Gestalt muss manch unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.«
Stalin und der Aufbau des Sozialismus
Ist also der »Weltgeist« in der Gestalt von Stalin tätig geworden? Als dessen geschichtliche Leistungen stellt Holz in diesem und in einem weiteren Beitrag heraus: »Ungeheure Erfolge beim Aufbau des Sozialismus in einem ökonomisch, technisch und bildungsmäßig wenig entwickelten Land.« Auch die »Minimalisierung der Kriminalität« sei Stalin zu verdanken, ebenso »Arbeitsplätze und Auskommen für alle« – und eben dadurch die Fähigkeit, den Angriff der deutschen Faschisten zurückzuschlagen.
Bei revolutionären Umwälzungen sei »strenge politische Kontrolle« erforderlich, meint Holz. »Fraktionelle Kämpfe in kommunistischen Parteien« müssten, wenn sich die »Machtfrage« stelle, nach folgendem Prinzip erledigt werden: »Revisionismus wird zur Konterrevolution«, »notfalls eliminieren«. Argumentative Hilfe erhielt Holz von dem italienischen Philosophen Domenico Losurdo. Auch der verwies darauf, dass Stalins »zweite Revolution« die Voraussetzung für den Sieg über Hitlerdeutschland geschaffen habe. Im Übrigen hätten sich doch auch die westlichen, kapitalistischen Staaten durchweg barbarischer Mittel bei der Durchsetzung ihrer Interessen bedient. Die Linke habe keinen Grund zur »Selbstgeißelung«.
Zwar erwähnt Holz im Hinblick auf die Ära Stalins »Unrechtshandlungen, Verbrechen und Fehlentwicklungen«. Doch geht er davon aus, dass dennoch die »Formationsänderung«, wie er es nennt, in dieser Zeit die Sowjetunion und die dortige Kommunistische Partei in die richtige Richtung gebracht habe. »Marx, Lenin, Stalin« reiht er unterscheidungslos ein in die »Aufklärungstradition«, den »fortgeschrittensten Stand der Vernunft«.
Stalin selig sprechen?
Sollen wir also, in den Kategorien der römisch-katholischen Kirche ausgedrückt, Stalin zwar nicht heilig (denn da waren ja einige Ausrutscher), aber doch selig sprechen? Betrachten wir die Geschichte von ihrem Ende her: Die Sowjetunion, der erste Staat mit dem Anspruch, sich auf dem Weg zum Kommunismus zu befinden, ist an ihren inneren Schwächen gescheitert, an systemischen. Die »realsozialistischen« Staaten in Europa, die unter Regie der Sowjetunion standen, haben ziemlich glatt ihren gesellschaftlichen Charakter gewechselt, die DDR ließ sich widerstandslos vom westdeutschen Kapitalismus vereinnahmen. Von den kommunistischen Parteien all dieser Länder ist wenig übrig geblieben. Von einem Versuch derselben, sich dem Untergang des »Realsozialismus« energisch entgegenzustellen, kann keine Rede sein. Eine derart einschneidende Veränderung der gesellschaftsgeschichtlichen Landkarte auf einen »Verrat« des sowjetischen Staatsführers und einiger seiner Gefolgsleute zurückzuführen, hieße auf alle historisch-materialistischen Erkenntnismöglichkeiten zu verzichten.
Konterrevolution und »Realsozialismus«
Hat Ende der 1980er Jahre eine »Konterrevolution« gesiegt? Der Begriff erfasst die historische Realität keineswegs. Zweifellos waren die führenden westlichen Staaten seit jeher darauf aus, das sowjetische System und überhaupt den »Realsozialismus« zu beseitigen, mit welchen Mitteln auch immer. Aber die gesamte gesellschaftspolitische Konstruktion der Sowjetunion, mitsamt der Kommunistischen Partei, war längst vorher morsch, von Verfallserscheinungen gekennzeichnet.
Geschichtsblind wäre es, da nicht nach strukturbestimmenden historischen Wirkungen der Politik unter Stalin zu fragen. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 hat Chruschtschow dies unterlassen, aus nahe liegenden Gründen: Er und seine Mitfunktionäre waren Geschöpfe der Stalin-Ära. In dieser Zeit war die Schicht der Funktionsträger in Staat und Partei zu einer Kaste geworden, in der offene Diskussion und demokratische Willensbildung verdrängt waren. »Marxismus-Leninismus« war verwandelt in eine Karikatur wissenschaftlich-politischen Denkens, »Säuberungen« und Schauprozesse hatten dem kommunistischen Selbstbewusstsein das Rückgrat gebrochen, große Teile des personellen Potenzials der Partei waren »liquidiert« oder in Lager verbannt. Angst und Opportunismus gehörten zum Alltag der Funktionäre. Bei der Masse der Bevölkerung hatten Zwangskollektivierung, ethnische Deportationen und »Arbeitslager« riesige soziale und psychische Verwüstungen angerichtet. Die Abwehrkraft der »Sowjetmenschen« gegenüber dem hitlerdeutschen Angriff war keineswegs so ungebrochen und selbstverständlich, wie es die Literatur der KPdSU darstellt. Nicht wegen, sondern trotz der Stalinpolitik gelang es, die Aggressoren zurückzutreiben.
War die Politik von Stalin alternativlos?
Waren die gesellschaftsgeschicht1ichen Weichenstellungen in der Ära Stalins tatsächlich »alternativlos«, »historisch notwendig«, um »Rückständigkeit« zu überwinden? Und hatte die mit dem »Führer« Stalin verbundene Entwicklung nichts zu tun mit dem Untergang des sowjetischen Systems einige Jahrzehnte später? Das sind Fragen, denen Karl Marx und Friedrich Engels, Rosa Luxemburg und Lenin nicht ausgewichen wären. In großer Zahl sind Kommunisten innerlich daran zerbrochen, dass sie Kritik an den Fehlwegen der Stalin-Ära nicht entwickeln mochten oder nicht offen äußern konnten, weil sie die weltpolitische Stabilität der Sowjetunion nicht gefährdet sehen wollten – eine tragische Situation, die erst mit dem Ende des »Ostblocks« nicht mehr bestand. Aber zur historischen Farce wird nun jeder Versuch, Stalin selig zu sprechen.
Die Risiken des Scheiterns
Folgern lässt sich aus alledem: »Sozialismus oder Barbarei« heißt eben auch, dass es keine »Weltgeist«-Garantie für das Gelingen einer Alternative zum Kapitalismus gibt. Dann bleibts bei der Barbarei. Also müssen Sozialisten über Risiken des Scheiterns, über Bedingungen des Gelingens nachdenken und sich austauschen, mit dem Blick auf die eigenen Konzepte, Handlungen und Strukturen, nicht nur auf die Operationen ihrer Gegner.
Personalisierung hilft nicht weiter bei der Analyse der Geschichte, aber die historischen Akteure sind Personen, im Zusammenhang von Gruppen, Organisationen und Klassen. Stalin war nicht ein Teufel, der alles verdarb. Aber er war in einer bestimmten Ära der Mann, der despotisch eine Partei lenkte, die sich kommunistisch nannte. In ihr wirkten zwar auch Kommunisten, aber die Partei war nicht mehr kommunistisch. So viel Genauigkeit im Umgang mit Begriffen muss sein. Sonst könnte man ja die »Heilige Inquisition« als Truppe zur Realisierung der Bergpredigt bezeichnen.
Schlagwörter: Arno Klönne, Debatte, Geschichte, Kommunismus, KPdSU, Marxismus, Stalin