Ostdeutschland ist die Hochburg der AfD. Warum der Osten 30 Jahre nach der Wende nach rechts kippt und wie wir das ändern können.
Dieser Beitrag erschien erstmals im November 2019.
Die Entwicklungen in den ostdeutschen Bundesländern sind nicht ohne die Geschichte der letzten Jahrzehnte zu verstehen. Sie ist auch verwoben mit der besonderen Schwäche der Gewerkschaften in Ostdeutschland. Überheblichkeit und Geringschätzigkeit, die es in manchen Kreisen gibt, ist hier völlig fehl am Platz. Die politische Linke (groß wie klein geschrieben) muss die Hintergründe verstehen und trägt selbst eine große Verantwortung für die künftige Entwicklung.
Die Gebiete Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und auch (Ost)-Berlin gehörten zu den Entstehungsgebieten und späteren Zentren der deutschen Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während in Westdeutschland die Gewerkschaften nach dem Ende des Faschismus wieder aufgebaut und mit der Bewegung um 1968 und danach eine deutliche Wiederbelebung erfuhren, verlief die Entwicklung in Ostdeutschland anders. Unter der Herrschaft der Staatspartei SED gab es in der DDR keine freien Gewerkschaften. Der Arbeiteraufstand von 1953 wurde gewaltsam niedergeschlagen und die Arbeiterklasse anschließend im Namen des Sozialismus unterdrückt und eingemauert. In der DDR gab es wie in den anderen Ostblockstaaten keine Herrschaft der Arbeiterklasse, sondern eine Herrschaft über sie.
Erst die ostdeutsche Revolution von 1989 brachte eine Neugeburt der nunmehr gesamtdeutschen Arbeiterbewegung. Die Linke heute muss sich positiv auf die Revolution von 1989 beziehen. Auch wenn die neue Ordnung ein Schritt seitwärts zu einer anderen Form des Kapitalismus darstellt, bleibt der Kampf von unten, der schließlich die Diktaturen in ganz Osteuropa wegfegte, auch heute noch eine Inspiration. Neben dem Aufbruch auf der Straße gab es einen Aufbruch in den Betrieben mit vereinzelten Streiks, der Absetzung von Parteileitungen und einen kurzen Moment wirklicher Demokratie und Mitbestimmung vor Ort.
Schnelle Wiedervereinigung
Der Aufbruch von 1989 endete anders als sich viele Linke gewünscht hatten. Statt für eine reformierte DDR zu streiten, setzten große Teile der ostdeutschen Arbeiterschaft auf eine schnelle Wiedervereinigung. Sie hofften, so schnell Wohlstand und eine bürgerliche Demokratie zu erhalten. Ein Großteil der neuentstehenden Linken damals verstand diesen Impuls nicht und manövrierte sich mit dem Festhalten an einer Reform der DDR ebenso ins Abseits wie die neugegründeten DDR-Oppositionsgruppen. Das Ergebnis war ein deutlicher Wahlsieg der CDU unter der Führung von Helmut Kohl, der beträchtliche Stimmgewinne in der Arbeiterschaft anheimste, die maßgeblich die Wende mit herbeigeführt hatten.
Der Euphorie des Aufbruchs folgte bald große Ernüchterung. Diese Erfahrung ist zentral, wenn man die tiefe Entfremdung großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung vom bestehenden politischen System verstehen will. Der unglaublichen Erfahrung, eine seit Jahrzehnten herrschende Staatspartei innerhalb weniger Monate zu stürzen und eine Grenze mit Mauer und Stacheldraht einzureißen, folgte eine große Ohnmacht. Mit der vom westdeutschen Kapital geprägten Wiedervereinigung kam die neoliberale Schocktherapie mit dem Instrument der Treuhand. Großteile der Industrie wurden vernichtet, Millionen Beschäftigte in die Arbeitslosigkeit und damit aufs Abstellgleis geschickt. Die zahlreichen Kämpfe gegen Betriebsschließungen gingen fast ausnahmslos verloren. Die Massenarbeitslosigkeit machten sich Unternehmen an vielen Stellen zu eigen und führten Angriffe auf die neu aufgebauten Gewerkschaften durch.
1993 rief die IG Metall in Ostdeutschland 150 000 Beschäftigte aus fast 500 Betrieben zu Streiks auf, nachdem zuvor der Arbeitgeberverband Gesamtmetall den 1991 vereinbarten Stufenplan zur Angleichung der Entgelte an das Westniveau aufkündigte. Im Ergebnis wurde der Stufenplan nicht nur gestreckt. Bis heute erreichen viele Entgelt- und Arbeitsbedingungen nicht das westdeutsche Niveau. Bis heute gibt es drei Stunden längere tarifliche Wochenarbeitszeit.
Agenda 2010: Vom Regen in die Traufe
1998 gewann die SPD die Bundestagswahl, während die ostdeutsche PDS (als eine der Vorgängerparteien der LINKEN) mit 5,1% zugleich erstmals in Fraktionsstärke in den Bundestag einzog. Dieser Linksschwenk war das Ergebnis starker Proteste gegen die Kahlschlagpolitik der CDU-Kohlregierung und deren Pläne für einen radikalen Abbau des Sozialstaates. 1996 demonstrierten – aufgerufen durch die Gewerkschaften – Hunderttausende vor dem Bundestag (damals noch in Bonn) gegen ein geplantes Sparpaket. In zahlreichen Betrieben fanden erfolgreiche Streiks gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall statt, die Unternehmen in Folge einer Gesetzesänderung durchsetzen wollten. 1997 stürmten Bergleute die Bannmeile des Bundestages und Streiks an den Universitäten prägten die politische Landschaft.
Bei der Bundestagswahl erhielten in Ostdeutschland SPD (35,1%) und PDS (21,6%) deutlich über die Hälfte der Stimmen. Vor dem Hintergrund der enttäuschenden und frustrierenden Erfahrung mit der Privatisierungspolitik der Treuhand, den Massenentlassungen, dem Billigstandort Ost und der damit verbundenen Armut wählten viele Menschen im Osten links. Sie hofften, Sozialdemokratie und PDS würden sich für einen echten Politikwechsel einsetzen.
Die Hoffnungen auf eine andere Politik durch eine erstmals rot-grüne Bundesregierung verflogen in den kommenden Jahren. 1999 beteiligte sich die Regierung an dem Kosovokrieg. Die seit 1999 vom neuen SPD-Kanzler Schröder verfolgte Politik der »neuen Mitte« gipfelte schließlich in der Agenda 2010 mit ihren Hartz-Gesetzen, die in den Jahren 2002 und 2003 beschlossen wurden. Die Agenda-Gesetze waren die zweite neoliberale Schocktherapie, die die Menschen im Osten mit voller Wucht traf. Der Osten war mit seinen vielen langjährigen Arbeitslosen besonders von Hartz IV betroffen.
Trotzdem war die erste Reaktion der Menschen im Osten nicht Resignation, sondern Widerstand, genau wie Anfang der 90er Jahre.
Wieder Montagsdemonstrationen
Auf der Straße brach sich 2004 der Unmut gegen diese Gesetze vor allem in Ostdeutschland Bahn. Hunderttausende kamen in den neuen Bundesländern zu den Montagsdemonstrationen, mit denen an die Tradition der Revolution 1989 angeknüpft wurde.
Im Westen konnte die Bewegung in der Breite dagegen kaum Fuß fassen. Weil die Gewerkschaftsspitzen nicht gewillt waren, wirklich gegen die Agenda 2010 zu mobilisieren, und am Ende »ihre« Regierung Schröder stützten, kamen die Gesetze trotzdem. Und im Jahr zuvor ging noch ein zweiter wichtiger Kampf in Ostdeutschland verloren. 2003 brach die IG Metall einen mehrwöchigen Streik zur Angleichung der Arbeitszeit auf die westdeutsche tarifvertragliche 35-Stunde-Woche erfolglos ab. Mit der Durchsetzung der Agenda 2010 und dem verlorenen Streik der IG Metall erlitt die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland eine ihrer schwersten Niederlagen in der Nachkriegsgeschichte. Ein Jahr später schloss die IG-Metall mit den Metallarbeitgebern das sogenannte Pforzheimer Abkommen ab, das es Unternehmen erlaubte, mit Zustimmung der Gewerkschaft vom Flächentarifvertrag abzuweichen – mit weiteren fatalen Konsequenzen.
Hoffnung in DIE LINKE
Nach den katastrophalen 1990er Jahren gab es in Ostdeutschland mit den Hartz-Gesetzen eine erneute Niederlage für die Arbeiterbewegung. Bei der Bundestagswahl 2009 stürzte die SPD mit einem Minus von 11% auf 23% ab. Die Anti-Agenda Proteste hatten zuvor zu einer Linksabspaltung der SPD geführt. Die stark westdeutsch geprägte Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) gründete zusammen mit der PDS 2007 die Partei DIE LINKE.
Die neugebildete LINKE erfuhr bei der Bundestagswahl 2009 einen deutlichen Zuwachs und erzielte bundesweit mit 11,9% ihr bisher bestes Ergebnis. Gleiches galt für Ostdeutschland, wo DIE LINKE mit einem Wahlergebnis von 28,5% weit über den Einflussbereich der alten PDS hinausreichte und nur kurz hinter der CDU (29,8%) auf Platz 2 lag (die SPD folgte mit 17,9%). Von den Gewerkschaftsmitgliedern erhielt DIE LINKE 2009 32,1% der Stimmen, CDU (27,1%) und SPD (23,5%) folgten mit deutlichem Abstand.
Allerdings war der Stimmenanstieg für DIE LINKE über das Jahrzehnt nur ein Merkmal der Bundestagswahl. Zugleich zogen sich große Teile der Bevölkerung zurück. 1998 war die Wahlbeteiligung mit der Richtungswahl zu Rot-Grün auf 82,2% gestiegen, 2009 lag sie nur noch bei 70,8% der Wahlberechtigten. Und wie schon in den Jahren zuvor verzeichneten die ostdeutschen Bundesländer noch wesentlich geringere Wahlbeteiligungen.
Anspruch nicht eingelöst
Mit ihrem Wahlslogan »Je stärker DIE LINKE, desto sozialer das Land« gab DIE LINKE als parlamentarische Partei eine klare Orientierung aus: Wähl uns und es wird dir besser gehen! Der derzeitige Absturz der LINKEN bei den Wahlen im Osten hängt eng damit zusammen, dass sie diesen Anspruch nicht einlösen konnte.
Trotz einer stärkeren LINKEN und eines Wirtschaftsaufschwungs ist der Umverteilungsprozess von unten nach oben weitergegangen. Auch die Wahlparole von 2009 »Hartz IV muss weg« steht im Kontrast zur Tatsache, dass mit dem Kürzungspaket von Schwarz/Gelb die Hartz-Gesetze noch einmal verschärft wurden. Leiharbeit und prekäre Beschäftigung haben explosionsartig zugenommen.
Gleichzeitig trug DIE LINKE in der Regierung in den ostdeutschen Bundesländern eine Politik mit, die das bestehende Elend verwaltete, oder traf gar katastrophale Entscheidungen wie z.B. Wohnungsprivatisierungen, Deregulierungen im Öffentlichen Dienst und von Arbeitszeitbestimmungen oder die Verschärfung von Polizeigesetzen. In der Opposition agierte sie angepasst und staatstragend, statt sich als Bewegungspartei in die bestehenden Abwehrkämpfe und den Kampf gegen Rechts zu werfen. Krassester Ausdruck davon ist die LINKE in Sachsen, die mit der Strategie »Regierung im Wartestand« selbst in der Opposition massiv Stimmen und Unterstützung verlor. Im Osten wird die Partei inzwischen stark als den etablierten Parteien zugehörig gesehen (daran ändert auch nicht, dass die Thüringer LINKE als SPD-Ersatz dort die Regierung anführt). Ein Neustart ist nach den katastrophalen Ergebnissen in Sachsen und Brandenburg dringend nötig.
Demütigende Erfahrungen in Ostdeutschland
Zum 30. Jahrestag der Revolution von 1989 stehen wir vor den Trümmerhaufen kapitalistischer Krisenpolitik. Dem kurzen Moment der Selbstermächtigung 1989 folgte der jähe Absturz. Abwanderung (von 1990 bis 2016 ging die Bevölkerung in Ostdeutschland um 11% zurück) und demütigende Niederlagen: Unmittelbar nach der Wende kam der Kahlschlag durch die Treuhand, dann kam Hartz IV. Das bedeutet nicht, dass es keine erfolgreichen Kämpfe und ermutigenden Beispiele gibt. Diese gibt es. Aber prägend für die mehrheitliche Erfahrung der Bevölkerung ist die bis heute anhaltende Nachwendeerfahrung, Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse zu sein. Die Absturzerfahrung des Ostens ist in seinem Tempo und Ausmaß nicht mit dem Niedergang alter Industrieregionen Westdeutschlands vergleichbar. Hinzu kommt eine Art Kolonialisierungserfahrung durch die Einführung westdeutscher Strukturen und die Übernahme durch westdeutsche Eliten. Wirtschaftspolitisch ist das Gebiet der ehemaligen DDR in weiten Teilen zur verlängerten Werkbank des Westens geworden.
30 Jahre nach der Wende ist die damalige Hoffnung Ost immer noch unerfüllt. Daran ändert auch nichts, dass wir über zehn Jahre Wachstum erleben. Im Gegenteil: Gerade deshalb hat sich dieses Problem verschärft! Seit über 20 Jahren stagnieren die Löhne bei ca. 80% des Westniveaus. Und wann, wenn nicht in einer solchen Zeit, kann eine Angleichung erfolgen? Von 2014 bis 2019 ist der Anteil der Ostdeutschen, die sehr große Unterschiede der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West sehen, von 64% auf 74% gestiegen. 57 % der Menschen im Osten fühlen sich als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Nur 38 % halten die Wiedervereinigung für gelungen, bei den unter 40-Jährigen (die also, die die DDR nur als Kinder oder gar nicht mehr kannten) sogar nur 20 %. Die Unzufriedenheit ist also kein Problem allein der älteren Generation.
Rassismus und der Aufstieg der AfD
Die AfD fängt einen Teil dieses Unmutes auf. Allerdings fehlen für die Erklärung des besonderen Aufstiegs der AfD in Ostdeutschland noch zwei entscheidende Punkte: Rassismus und organisierte Neonazimilieus. Schon zu DDR-Zeiten war beides weiter verbreitet als bekannt und bereitete den Boden für spätere offen rechte Mobilisierungen. Nach der Wende kam es zu Pogromen in Ost wie West. Es gehört aber zur Wahrheit, dass sich im Osten vor allem in den kleineren Städten und ländlichen Räumen Subkulturen von rechten Minderheiten verwurzelten, die auch immer wieder öffentlich in Erscheinung traten. Starke Wahlergebnisse in den Landesparlamenten von DVU und NPD drückten dies zwischenzeitlich aus.
Ermöglicht hat dies das Fehlen einer starken Gegenkultur und eine schwächere linksalternative Zivilgesellschaft. Anders als in Westdeutschland nach 1968 ist diese schwächer ausgeprägt und der Fortzug junger Menschen in Folge der Perspektivlosigkeit trug und trägt mit dazu bei. Deshalb konnte die extreme Rechte im Osten breiter aufbauen. Schon 1998 lag der Anteil tendenziell rechtsextremistischer Einstellungen an den Berufs- bzw. Erwerbsgruppen mit 17% höher als im Westen mit 12%.
Einen neuen Schub erhielt diese Problematik jedoch in den vergangenen zehn Jahren mit dem von oben geschürten Rassismus und Kampagnen gegen Gruppen wie Muslime oder Geflüchtete. Stichworte sind hier Sarrazin und Kampagnen von BILD-Zeitung und Union, die Hetzparolen salonfähig machten und Dämme brechen ließen. Diese Vorlage macht sich die AfD zu eigen und verbindet sie mit dem bestehenden sozialen Frust. Eine sehr gefährliche Mischung.
Antworten auf den Rechtsruck
Es gibt keine Zwangsläufigkeit, dass Menschen aus Protest automatisch nach rechts gehen, noch ist der oder die Ostdeutsche, die es so eh nicht gibt, autoritärer veranlagt. Es ist vielmehr eine Frage der Perspektive und der Kräfteverhältnisse: Können wir die Mächtigen und Reichen angreifen und für eine Umverteilung des Reichtums sorgen? Oder grenzen wir andere Teile der eigenen Klasse aus und machen sie zu Sündenböcken für bestehende Probleme?
Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, ob die Gesellschaft in Ostdeutschland nachhaltiger nach rechts kippt und wie weit diese Entwicklung in Gesamtdeutschland reicht oder ob wir eine Wende in die andere Richtung schaffen. Zwei Faktoren sind dafür zentral: Die Frage des Rassismus in der Konfrontation der AfD und die soziale Frage.
Eine wichtige Rolle spielen dabei in Ostdeutschland die Gewerkschaften. Sie traten in den Krisenjahren in Ostdeutschland nur unzureichend als Schutzmacht und kämpfender Akteur in Erscheinung. Zu Beginn der 1990er standen sie mit der ansteigenden Arbeitslosigkeit mit dem Rücken zur Wand und führten Kämpfe gegen Betriebsschließungen oder Abbau nicht oder nur unentschlossen. Die Hartz-Reformen wurden Anfangs begrüßt und bei Protesten Zurückhaltung geübt. Bis heute hält sich an vielen Spitzen der Gewerkschaften eine Politik, die auf eine Rückkehr der Sozialpartnerschaft hofft, statt mutiger in Auseinandersetzungen zu gehen. Sie stützen sich dabei oft auf das geringe Selbstbewusstsein breiter Teile der Beschäftigten, statt dieses in Kämpfen aufzubauen. Das verschärft die Situation. Ohne Zweifel wird es auch dann Niederlagen geben, wenn die Gewerkschaften mutiger agieren. Aber hieraus gilt es zu lernen. Allemal besser als ruhig zu bleiben und den eigenen Bedeutungsverlust zu beobachten.
In den zurückliegenden zehn Jahren ist es trotz kontinuierlichen Wirtschaftswachstums und verbesserter Arbeitsmarktlage kaum gelungen Erfolge zu erkämpfen – das gilt für ganz Deutschland und hat gesellschaftlich insgesamt die Klassenperspektive in den Hintergrund treten lassen. Aber wir brauchen diese erfolgreichen Kämpfe (zu denen auch die Mietenbewegung und die Pflegestreiks gehören), um der sozialen Frustration eine Alternative gegenüberzustellen und eine Perspektive, dass wir die Gesellschaft von unten verändern können. Dafür müssen sich die kämpferischen und bewussten Kolleginnen und Kollegen zusammenschließen. DIE LINKE muss dabei eine zentrale Rolle spielen und die Partei zum Lern- und Vernetzungsraum für betriebliche Aktive machen.
Die Bedeutung von #unteilbar
Es wäre aber zu kurz gedacht, die Lösung gegen die AfD allein in der sozialen Frage zu suchen. Rassismus und sozialvölkische Ideen (Reichtumsverteilung Deutsche gegen Ausländer statt zwischen oben und unten) sind Gift für den gemeinsamen Kampf.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit erleben gerade größere Teile der ostdeutschen Beschäftigten Migrationserfahrungen. Vor allem die Zahl osteuropäischer Kolleginnen und Kollegen steigt in vielen Betrieben, meist weil Arbeitskräfte in den unteren, schlechtbezahlten Lohngruppen fehlen. Wie kommen wir hier dazu, dass nicht aneinander vorbei gearbeitet wird, vielleicht sogar noch konfliktbehaftet, sondern dass wir uns zusammen organisieren? Diese Frage zu beantworten ist für die Gewerkschaften für die kommenden Jahre zentral.
In der politischen Debatte darf DIE LINKE keine zweifelhaften Positionen beziehen oder bestimmten Argumentationsmustern der Rechten folgen. Auch im Osten ist die politische Situation geprägt von einer Polarisierung zwischen links und rechts. Die Bedeutung bundesweiter Bewegungen wie #unteilbar als Gegenpol zur AfD kann für den Osten nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn sie stark genug sind, können sie helfen Landgewinne der AfD einzudämmen oder zurückzudrängen, etwas, was nicht allein den Engagierten vor Ort überlassen werden darf. Eine ähnliche befruchtende Rolle kann die Umweltbewegung um Fridays for Future spielen, die ebenfalls eine direkte Kampfansage an die AfD ist. Ein Aufschwung der sozialen Kämpfe in Ostdeutschland (und insgesamt) ist jedenfalls ohne eine starke antirassistische und antifaschistische Bewegung nicht denkbar.
Chancen für die Gewerkschaften
Für Sozialistinnen und Sozialisten, die die Gesellschaft verändern wollen, ist die Selbstaktivität der Arbeiterklasse zentral. Der Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen von unten ist nicht nur wegen der geringeren gewerkschaftlichen Tradition schwieriger, es gibt auch weniger Großbetriebe. Aber im Osten ist viel in Bewegung. Wer dort in den letzten Jahren in den Betrieben unterwegs ist, merkt: Es weht ein neuer Wind. 30 Jahre nach der Wende wollen viele Beschäftigte nicht mehr hinnehmen, dass Löhne dauerhaft dem westdeutschen Niveau hinterherhinken, während zugleich länger gearbeitet wird. Es ist zum Teil eine neue Generation, die hier in Aktion tritt – ohne die Krisenerfahrung des Kahlschlags der Zeit nach der deutschen Einheit und mit einem neuen Selbstbewusstsein angesichts der Tatsache, dass sich in den vergangenen zehn Jahren die Arbeitsmarktlage zu Gunsten der Beschäftigten geändert hat.
Es gab und gibt zahlreiche Auseinandersetzungen, die oftmals wenig oder kaum bekannt sind. 2012 streikten Beschäftigte des Callcenters S-Direkt in Halle mehr als 117 Tage erfolgreich für einen Haustarifvertrag. Solche Kämpfe finden jedes Jahr in verschiedensten Branchen statt. In diesem Jahr erstreikten Beschäftigte des Nudelherstellers Teigwaren Riesa einen Tarifvertrag, nachdem sie kurz zuvor einen Betriebsrat gegründet hatten. Beschäftigte der Universitätsmedizin Rostock Logistik erreichten in diesem Jahr eine Angleichung an den Ländertarifvertrag und erkämpften Lohnsteigerungen zwischen 27 Prozent bis 42 Prozent. Und auch bei größeren und längeren Auseinandersetzungen war der Osten dabei, wenn nicht sogar an der Spitze, wie zum Beispiel beim Streik der Lokführer, der Erzieherinnen oder der Streikenden bei Amazon. Und es passiert viel auch jenseits der Arbeitskämpfe.
Arbeitskämpfe prägen das Klima kaum
Aber bisher prägen solche Kämpfe kaum das gesellschaftliche Klima. Das dokumentieren die klassischen Daten zur Stärke der Gewerkschaftsbewegung, die Kurve geht weiterhin nach unten. Immer weniger Beschäftigte werden nach einem Tarifvertrag bezahlt oder wählen eine betriebliche Interessenvertretung. Das ist eine gesamtdeutsche Entwicklung, die im Osten aber besonders ausgeprägt ist. Nur 35% der ostdeutschen Beschäftigten arbeiteten 2018 in Betrieben mit Betriebsrat, 1996 waren es noch 43% (im Westen sank der Wert von 51% auf 42%). Ähnliches gilt für die Tarifbindung, sie ging von 56% im Jahr 1996 auf 35% im Jahr 2018 zurück (im Westen von 70% auf 49%).
Inzwischen arbeitet nur noch eine Minderheit von ca. einem Drittel der Beschäftigten in Ostdeutschland in einem Betrieb mit Betriebsrat und Tarifvertrag! Was dies für das Alltagsbewusstsein und die kollektive Erfahrung der Menschen bedeutet, darf nicht unterschätzt werden. Trotz immer mehr Beschäftigten geht die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zurück. Wenngleich dies eine allgemeine Entwicklung in ganz Deutschland ist, lohnt es sich für den Osten näher hinzuschauen. Und es geht nicht nur darum, ob Klassenkämpfe geführt, sondern ebenso, ob sie gewonnen werden.
Welche Rolle kann die LINKE spielen?
Aufgrund ihres möglichen sozialen Wirkungskreises könnte DIE LINKE oder zumindest wichtige Teile der Partei eine wichtige Rolle spielen, den antirassistischen und sozialen Kampf in Ostdeutschland voranzubringen.
Dafür muss innerhalb der Partei der Flügel gestärkt und aufgebaut werden, der die Partei als Bewegungspartei sieht und soziale Kämpfe von unten führen will. Kritischen und kämpferischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern muss sie ein politisches Angebot machen, sie in den Kämpfen und Auseinandersetzungen vor Ort und in den Gewerkschaften unterstützen und dort sichtbar sein. Gleiches gilt für die Ansprache und Zusammenarbeit mit anderen linken, antikapitalistischen Milieus und Gruppen, die sich aufgrund von (oftmals konkret berechtigten) Vorbehalten nicht in der LINKEN organisieren. Das ist wichtig für die Stärkung des bewegungsorientierten, linken Flügels in der Partei und oftmals vor Ort überlebensnotwendig wegen der Überalterung der Mitgliedschaft bei gleichzeitiger Prägung der Partei durch die parlamentarischen Apparate.
Die Parteienlandschaft wird derzeit stark aufgewirbelt. Seit jeher sind die parteipolitischen Bindungen in Ostdeutschland nicht so stark ausgeprägt gewesen wie im Westen. Wurde die alte PDS nach der Wende hauptsächlich von Mitgliedern und Funktionsträgern der alten SED gewählt, waren schon in den 90er Jahren zunehmend Anhängerinnen und Anhänger aus der Arbeiterklasse zu finden. Gewerkschaftlich war die alte PDS stark unterentwickelt. Die Gründung der LINKEN half zunächst auch im Osten, dort stärker Wurzeln zu schlagen.
Neustart in Ostdeutschland
Klar ist: DIE LINKE braucht einen Neustart im Osten. Um nicht als Teil des Establishments gesehen zu werden, muss DIE LINKE ganz anders sein als die etablierten Parteien. Das bedeutet einen Bruch mit der Fixierung auf Parlamente als wesentliches Aktionsfeld und Hebel zur gesellschaftlichen Veränderung. DIE LINKE muss sich aus dieser Gefangenschaft der Fixierung auf Wahlkämpfe, Wahlen und Parlamente lösen. Denn diese Fixierung ist mittlerweile ein Hemmschuh für den Aufbau von funktionierenden Basisstrukturen, kämpferischen Initiativen und gesellschaftlichen Bündnissen. Das macht sich besonders im Osten bemerkbar, wo die Partei gnadenlos überaltert ist. Der Kampf gegen Rassismus muss von der LINKEN gerade im Osten besonders intensiv geführt werden.
DIE LINKE als Gesamtpartei kann dabei helfen. Sie muss auch einen starken Bezug zur Ostidentität herstellen, aber nicht im trennenden Sinne, sondern zur Selbstermächtigung: Wir machen uns hier auf den Weg, um gemeinsam deutschlandweit eine Veränderung anzustoßen. Denn die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West oder Deutschen und Geflüchteten, sondern zwischen oben und unten.
Foto: viajes.juanjook.com
Schlagwörter: AfD, DIE LINKE, Gewerkschaft, Inland, Ostdeutschland