Stalin ließ 1940 den russische Revolutionär Leo Trotzki ermorden. Wir werfen ein Blick auf sein Leben, seine Ideen und sein Vermächtnis. Von Esme Choonara
Am 20. August 1940 ermordete ein Agent des russischen Diktators Joseph Stalin den ins Exil getriebenen russischen Revolutionär Leo Trotzki, indem er mit einem Eispickel seinen Schädel einschlug. Trotzki befand sich in seinem Haus in Mexiko, als der Mörder in sein Arbeitszimmer kam und ihn angriff. Das war nicht der erste Versuch Stalins. Wenige Wochen zuvor hatte eine Gruppe mexikanischer Anhänger Stalins einen bewaffneten Angriff auf Trotzkis Heim verübt und einen Wächter getötet.
Stalin war so entschlossen, Trotzki und sein Vermächtnis zu vernichten, dass er bereits einen Großteil von Trotzkis engerer Familie ermordet oder in den Selbstmord getrieben hatte. Er zwang Trotzki 1929 ins Exil und verleumdete ihn als faschistischen Spion und Feind der Arbeiter. Im vergangenen Jahr wurden in einer Museumsausstellung in St. Petersburg einige der wahnwitzigen Anstrengungen des russischen Regimes gezeigt, jede Spur von Trotzkis wirklichem Erbe auszulöschen. Unter den Ausstellungsstücken befand sich ein Schal der Lehrergewerkschaft von 1925 mit Porträts revolutionärer Führer. Das Bild von Trotzki war sorgfältig ausgeschnitten und mit einem Stück unbedrucktem Stoff ersetzt worden.
Hunderte Fotografien aus den Revolutionsjahren wurden ebenfalls manipuliert, um Trotzki von seinem Platz in der Geschichte zu verdrängen. Dabei befand sich Trotzki bereits elf Jahre lang im Exil, als er getötet wurde. Er hatte nur eine Handvoll, in mehreren Ländern verstreute Anhänger mit geringem Einfluss auf die Weltereignisse. Seine Verbündeten in Russland waren entweder getötet oder durch Stalins Terror gebrochen worden. Warum betrachtete Stalin ihn dann immer noch als Bedrohung? Trotzki war eine wichtige Führungsperson der russischen Revolution von 1917. Er hatte dazu beigetragen, die für eine kurze Zeit radikalste und freieste Gesellschaft der Geschichte auf den Weg zu bringen. Er führte die Rote Armee, damals eine revolutionäre Kraft, die er fast aus dem Nichts aufbaute, um die neue Gesellschaft gegen Russlands alte Herrscher und mehr als ein Dutzend einmarschierende Armeen zu verteidigen.
Trotzki war nicht bereit, sich Stalins Lügen und der Verfolgung zu beugen und wurde so zu einem lebenden Symbol dessen, was Sozialismus und die russische Revolution tatsächlich bedeuteten. Und Stalin war entschlossen, all das auszulöschen. Viele Historiker haben die Schlacht zwischen Trotzki und Stalin als Kampf zweier machthungriger Individuen dargestellt. Tatsächlich aber beruhte der Konflikt auf zwei unterschiedlichen Vorstellungen von gesellschaftlichem Wandel und zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften. Trotzki glaubte, wie Marx, dass einfache Menschen fähig sind, die Gesellschaft zu lenken, und dass Arbeiterinnen und Arbeiter der Schlüssel zum erfolgreichen Sturz des Kapitalismus sind. Trotzki war Internationalist, weil für ihn klar war, dass das Überleben der Revolution in einem weltweiten Wirtschaftssystem von ihrer Ausbreitung über Russland hinaus abhing. Stalin spielte dagegen im Jahr 1917 nur eine geringe Rolle. Er trat erst hervor, als die Revolution wegen ihrer internationalen Isolierung erdrosselt wurde, Opfer ausländischer militärischer Überfälle wurde und im Inneren von Hungersnot und den Folgen des Bürgerkriegs geplagt war.
Aus diesen verzweifelten Umständen erwuchs eine neue Klasse von Bürokraten und Staatsbeamten, die zur sozialen Basis von Stalins Herrschaft wurden. Trotzki erklärte im Jahr 1929: »Die Funktionäre, die sich über die Massen erhoben, sind in ihrer Mehrheit zutiefst konservativ. […] Diese konservative Schicht [ist] Stalins Hauptstütze […].« (Was wird aus der Sowjetrepublik?«, Konstantinopel, 25. 2. 1929; in: Trotzki, Schriften, Bd. 1.1)
Tausende Revolutionäre waren bei der Verteidigung der neuen Gesellschaft getötet worden. Und die für die Revolution entscheidende Arbeiterklasse war nach dem Bürgerkrieg durch schreckliche Armut und Hungersnot erheblich geschwächt. Die russische Industrie war 1921 so gut wie zusammengebrochen. Zum Ende des Bürgerkriegs gab es deshalb nur noch 1,25 Millionen produktive Arbeiterinnen und Arbeiter, aber 5,9 Millionen Staatsfunktionäre.
Der Aufschwung der Bürokratie war jedoch nicht unvermeidlich gewesen. Für Trotzki lag der Schlüssel in der Ausbreitung der Revolution vor allem nach Westeuropa. Er war der Meinung, dass das die einzige Möglichkeit war, die Probleme der Isolation und Zerstörung des revolutionären Russlands zu überwinden, die Industrie und damit auch die politische Stärke der Arbeiterklasse wieder aufzubauen. Das war kein Hirngespinst. Europa befand sich im Gefolge der russischen Revolution in Aufruhr. In Deutschland, Spanien, Ungarn, Großbritannien und weiteren Ländern kam es zu großen Kämpfen. Trotzki spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung der Kommunistischen Internationale, um die Revolutionäre der Welt zusammenzubringen und Strategie und Taktik zu diskutieren.
Im Gegensatz zu Trotzkis Internationalismus erklärte Stalin im Jahr 1924, es sei möglich, den »Sozialismus in einem Land« aufzubauen. Die Logik dessen hatte mit Sozialismus von unten nichts mehr zu tun, sondern es ging dabei um militärische und wirtschaftliche Konkurrenz mit anderen kapitalistischen Staaten. Und um konkurrieren zu können, entschied Stalin, dass Russland in den Wettlauf mit stärker industrialisierten Nationen eintreten müsse, um aufzuholen. Stalin erklärte im Jahr 1931 einer Gruppe Manager: »Wir liegen 50 oder 100 Jahre hinter den fortgeschrittenen Ländern. Wir müssen diesen Rückstand innerhalb von zehn Jahren aufholen. Entweder schaffen wir das, oder sie werden uns zerquetschen.«
Dieser Prozess führte zu dem, was der britische Marxist Tony Cliff später, , als Staatskapitalismus analysierte: Konkurrenz auf weltweiter Ebene organisiert durch den Staat statt durch Einzelunternehmen. Diese Konkurrenz drückte jedem Aspekt der russischen Gesellschaft ihren Stempel auf. Sie führte zu brutaler Unterdrückung und furchtbaren Lebensbedingungen für Arbeiter wie Bauern, die den Preis für die Steigerung der Produktivität der russischen Ökonomie zahlen mussten.
Stalins erster Fünfjahresplan, der im Jahr 1929 in Kraft trat, bedeutete für Millionen den Hungertod und einen Absturz des Lebensstandards für die anderen. Tausende wurden in Arbeitslager verbracht.
Mit der Auslöschung der Arbeitermacht, der wirtschaftlichen Grundlage der Revolution, durch Stalin, wurden auch die politischen Errungenschaft beseitigt. Frauenrechte und Rechte nationaler Minderheiten wurden ebenso wie Religionsfreiheit abgeschafft. Selbst die Kunst, die in den ersten Tagen der Revolution aufgeblüht war, wurde unter strenge Kontrolle gestellt.
Die internationale Bewegung, deren Ziel es gewesen war, die Revolution auszuweiten, wurde den Bedürfnissen der russischen Außenpolitik untergeordnet. Stalins Gegner wurden brutal ausgeschaltet. Fast jede Führungsperson der Revolution von 1917 wurde unter seiner Herrschaft ermordet.
Ein »Blutstrom«, wie Trotzki es nannte, trennte die Revolution von 1917 von dem Regime Stalins.
Trotzki gab nicht auf. Egal in welchem Land er sich aufhielt, schrieb er, hielt Reden und versuchte sozialistische Organisationen aufzubauen. Für ihn war seine Arbeit im Exil die wichtigste Tätigkeit seines Lebens. Am Ende wurde auch Trotzki Opfer Stalins. Seine Beharrlichkeit und Hingabe haben aber dazu beigetragen, dass die Ideen von einem Sozialismus von unten, in dem Arbeiterinnen und Arbeiter sich selbst befreien und eine neue Welt erschaffen können, überlebt haben. Trotzki wurde nicht nur aus Stalins Russland ausgewiesen, ihm wurde auch der Zugang zu all den westlichen »Demokratien« verweigert. Trotzki war für Stalin wie die westlichen Staatsmänner gleichermaßen unerträglich, weil er ein lebender Vertreter der für sie gefährlichen Idee war, dass einfache Menschen die Macht ergreifen und die Welt nach ihren Interessen verändern können.
Er war einer der ersten Sozialisten, der eine detaillierte Kritik des stalinistischen Russlands entwickelte und so die Grundlagen für künftige Generationen schuf, die seine Analyse weiterentwickeln konnten. Trotzki lebte und schrieb in einer Zeit großer Umwälzungen: Er erlebte Krise, Krieg, Revolution und die Geburt des Faschismus. Seine Ideen sind auch heute von großer Bedeutung. Trotzkis Schriften über die »Einheitsfront« sind immer noch eine wichtige Anleitung, wie Sozialisten mit anderen zusammenarbeiten und dabei gleichzeitig den Einfluss revolutionärer Ideen verbreiten können.Trotzki entwickelte eine Analyse des Faschismus und eine Strategie für seine Bekämpfung, nur war er zu isoliert, um wirklichen Einfluss auf den Gang der Ereignisse zu haben.
Jedes Gebiet menschlicher Erfahrung war für Trotzki von Interesse. Er setzte sich mit der Frage der Frauenbefreiung auseinander, schrieb über Literatur, Kunst und Geschichte und sogar über die Rolle von Bibliothekaren.
Als Marxist lernte Trotzki aus seinen Erfahrungen. Im Jahr 1905 war er beteiligt an einer großen Streikwelle, die zur Revolution führte. Diese Revolution wurde schließlich niedergeschlagen, aber Trotzki lernte dabei viel über Macht und die Kreativität der Arbeiterschaft. Er war im Petrograder Sowjet, einem von Fabrikdelegierten gewählten Arbeiterrat, und wurde in seine Führung gewählt.
Seine Erfahrungen aus der Revolution von 1905 halfen ihm, seine Theorie der »permanenten Revolution« zu entwickeln. Darin untersuchte er die entscheidende Rolle von Arbeitern im revolutionären Kampf selbst in Entwicklungsländern, wo sie keine Mehrheit stellten. Auch heute lohnt es sich , die vielen Schriften Trotzkis zu lesen. Sie bieten Einsichten und Lehren für alle, die für eine Welt jenseits des Kapitalismus kämpfen.
Mehr im Internet:
Verschiedene Texte von Leo Trotzki auf Deutsch: www.marxists.org
Buchtipps:
Trotzkis Texte über den Nationalsozialismus hat Helmuth Dahmer in den 1970er Jahren unter dem Titel »Schriften über Deutschland« herausgegeben (Europäische Verlagsanstalt 1971). Eine Auswahl findet sich in dem Band »Porträt des Nationalsozialismus« (Mehring 1999). Außerdem zu empfehlen ist von Leo Trotzki »Die Geschichte der russischen Revolution«. Online auf Deutsch auf www.marxists.org
Zum Text:
Der Text erschien zuerst auf Englisch in der Zeitschrift Socialist Worker . Übersetzung ins Deutsche von Rosemarie Nünning.
Bild: Yuri Annenkov / wikimedia
Schlagwörter: Leo Trotzki