Ikone der Studierendenbewegung, Hassfigur der bürgerlichen Reaktion: Die Politik des SDS-Aktivisten Rudi Dutschke ist der Schlüssel zum Verständnis von Aufstieg und Niedergang der 68er-Proteste. Von Volkhard Mosler
Volkhard Mosler ist Redakteur von theorie21 und war 1968 Mitglied im Vorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt am Main.
Im Jahr 1959 kam eine repräsentative Umfrage über »Politisches Bewusstsein von Studenten« zu dem Ergebnis, dass nur neun Prozent als »engagierte Demokraten« gelten konnten. Die große Mehrheit hingegen würde unter einem undemokratischen Regime keinen Widerstand leisten. Die westdeutschen Studierenden waren an Politik nicht interessiert.
Es war der Höhepunkt der Adenauer-Ära. Zwischen 1947 und 1956 hatten die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD zusammen etwa 600.000 Mitglieder verloren. Bei der Bundestagswahl 1957 erhielten CDU/CSU 51 Prozent der Stimmen. Seine Wahlerfolge von 1953 und 1957 erzielte Konrad Adenauer mit Parolen wie »Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau« und »Keine Experimente«.
Zehn Jahre später erlebte Deutschland eine revolutionäre Welle von Studierenden- und Jugendprotesten. Die führende Kraft dieser Bewegung war der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der 1961 aus der SPD ausgeschlossen worden war – weil er kommunistisch unterwandert gewesen sein soll. In den frühen 1960er Jahren hatte der SDS etwa 400 Mitglieder an 30 Universitäten, West-Berlin eingeschlossen. Als ich 1963 dem SDS Göttingen beitrat, engagierte er sich vor allem im Seminar-Marxismus.
Gründe der Radikalisierung
Von 1964 bis 1967 wuchs der SDS auf etwa 2000 Mitglieder an. Zugleich radikalisierte er sich: Aus einer links-zentristischen Organisation wurde eine mehrheitlich revolutionäre Organisation. Natürlich gab es dafür auch »objektive« Gründe, gesellschaftliche Entwicklungen, ohne die dieser Wandel nicht hätte stattfinden können. Zu nennen sind hier ein Tauwetter im Kalten Krieg zwischen USA und UdSSR und in dessen Folge eine Abschwächung der Ideologie des Antikommunismus in der Gesellschaft sowie der Eintritt der USA in den Vietnamkrieg (1964). In den Jahren 1966/67 kam es zur ersten Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik seit 1949 und eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD stellte unter Kanzler Kiesinger (CDU) und Vizekanzler Willy Brandt (SPD) die Regierung. Die deutschen Hochschulen waren überfüllt und eine technokratische Hochschulreform sollte die Studierendenmassen bewältigen.
Aber veränderte objektive Bedingungen führen nicht automatisch zu einem Aufschwung revolutionärer Ideen. Sie erklären nicht, warum sich der SDS ab 1965 nach links wendete. Es war das Jahr, als sich sieben Studenten aus der anarchistischen Gruppe »Subversive Aktion« dem SDS anschlossen, um diesen für ihre Ideen zu gewinnen. Einer von ihnen war Rudi Dutschke. Kurz vor dem Mauerbau war er aus der DDR nach Westberlin übergesiedelt. Sicher war dies auch ein Grund für seine antistalinistische Einstellung, die er auch in den Jahren im Westen beibehielt. Einige von Dutschkes Mitstreitern gründeten 1967 eine Kommune und glitten ab in eine Lebensstilpolitik (»Das Private ist politisch«). Zur selben Zeit näherte sich Rudi Dutschke dem revolutionären Marxismus an. Innerhalb von drei Jahren war sein Einfluss von der Minderheit zur Mehrheit geworden.
»Traditionalisten« und »Antiautoritäre«
Innerhalb des SDS gab es 1966 zwei Hauptfraktionen: Die einen, (meist) ältere Genossinnen und Genossen, wurden als »Traditionalisten« bezeichnet, während der Flügel um Rudi Dutschke sich »antiautoritär« nannte. Rudi hatte die Ideen des ungarischen Marxisten Georg Lukacs studiert und ihn sogar in Budapest besucht. An Lukacs faszinierte ihn dessen Betonung des subjektiven Faktors in der Geschichte, der entscheidenden Rolle von politischen Organisationen und Parteien und sogar von Individuen.
Der Marxismus vieler »Traditionalisten« folgte hingegen laut Dutschke den Lehren Karl Kautskys (führender Theoretiker der Sozialdemokratie vor 1914) und des »Kautskyanismus«, nach dem die geschichtliche Entwicklung menschlicher Gesellschaften der gleichen Notwendigkeit folge wie Naturgeschichte. Schon 1963 schrieb Rudi, dass einseitiger Materialismus den Geschichtsprozess wie einen Naturprozess verstünde. Damit beseitige er »die bewusste, freie Entscheidung des Individuums, der Gruppe, der Partei usw. – alles wird unvermeidlich, da der Kommunismus, die klassenlose Gesellschaft beschlossene Sache ist, braucht uns eigentlich die Gefahr eines Atomkriegs nicht zu schrecken«.
Unvermeidlich prallten die zwei Strömungen aufeinander. Die Sprecherinnen und Sprecher der »Traditionalisten«, die zwischen 1964 und 1966 mit Helmut Schauer den Bundesvorsitzenden stellten, hatten ein ambitiöses Schulungsprogramm entwickelt, das der politischen Vereinheitlichung des SDS dienen und damit seine Praxisfähigkeit steigern sollte. Sie argumentierten: »In seiner Schrift ›Was Tun?‹ hatte Lenin in der Auseinandersetzung mit den Ökonomisten die Bedeutung der Parteiarbeit mit der These begründet, dass die Arbeiter bei einer bloß gewerkschaftlichen Aktivität kaum mehr als ein an der unmittelbaren Verbesserung der Lebensbedingungen orientiertes ›trade-unionistisches‹, nicht jedoch ein revolutionäres Bewusstsein entwickeln könnten. (…) In Anlehnung an diese These ließe sich für unsere Situation sagen, dass auch radikal-demokratisches Bewusstsein der Studenten erst durch die Erziehungsarbeit des SDS (…) zu einem sozialistischen Bewusstsein werden kann.« Sozialistisches Bewusstsein entsteht nach dieser Lehre durch die Erziehungsarbeit der Partei, nicht auf der Grundlage von Erfahrungen in Klassenkämpfen von unten. Eine Kritik des Stalinismus war im Schulungsprogramm nicht vorgesehen.
Provokante Aktionen und die Gewaltfrage
Rudi und seine Anhänger argumentierten hingegen für eine Taktik der Bewusstseinsbildung durch Aktionen und Kämpfe. Polizeibrutalität würde die radikal-demokratischen Studierenden mehr über den Klassenstaat lehren als die Lektüre von Lenins »Staat und Revolution«. Damit sollte Rudi gegenüber den »Traditionalisten« Recht behalten. Unter seiner maßgeblichen Mitwirkung zeigte der Berliner SDS exemplarisch, wie eine sozialistische Massenbewegung an den Universitäten und darüber hinaus unter den damaligen Bedingungen geschaffen werden konnte.
Rudi Dutschke war beeinflusst von dem deutsch-amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse, der mehrmals auf Massenveranstaltungen und Kongressen des SDS in Deutschland auftrat. Marcuses Artikel über »repressive Toleranz« aus dem Jahr 1966 wurde viel gelesen. Er argumentierte, dass die unterdrückten Massen niemals das »Recht« auf Überwindung ihrer Unterdrückung finden werden: Recht und Gesetz werden immer die herrschende soziale Hierarchie verteidigen. Und er schloss: »Wenn die Unterdrückten zur Gewalt greifen, schmieden sie nicht neue Ketten sondern zerreißen die alten.« Marcuse lehrte die Studentenavantgarde von 1967, dass der Gebrauch von Gegengewalt gerechtfertigt sei und dass jene, die prinzipiell darauf verzichten, sich bereits von vornherein mit ihrer Niederlage abgefunden hätten. Der Philosoph rief dazu auf, mit der »repressiven Toleranz« der Herrschenden zu brechen, die den Unterdrückten zwar erlaubten, frei zu reden und sogar »friedlich« zu demonstrieren, die aber selbst nie davor zurückscheuen würden, mit allen Mitteln den Kapitalismus zu verteidigen.
Dutschkes Einfluss im SDS wuchs rasch – zunächst in Berlin, dann auch im Gesamtverband. Im September 1967 erlangte sein Flügel der »Antiautoritären« zum ersten Mal die Mehrheit, stellte nun auch die Bundesvorsitzenden. Die »Traditionalisten« warfen Rudi vor, dass er mit seiner Taktik der provokativen Aktionen die Arbeiterklasse gegen die Studierenden aufbringen und diese isolieren werde.
Habermas bezichtigt Dutschke des »Linksfaschismus«
Als der Schah von Persien im Juni 1967 auf Einladung der Bundesregierung Berlin besuchte, organisierte der SDS Protestdemonstrationen gegen den Diktator. Dabei wurde der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Dies löste die erste große Welle von Studierendendemonstrationen in der Bundesrepublik aus. Auf einem Kongress zu Ohnesorgs Beerdigung wenige Tage später in Hannover griff der bekannte Sozialwissenschaftler und Philosoph Jürgen Habermas Dutschke an und bezichtigte ihn des »Voluntarismus«. Er warf ihm also vor, die realen Gegebenheiten zu jener Zeit mutwillig zu ignorieren. Dutschkes Taktik der kalkulierten Provokation der Staatsmacht, die darauf angelegt sei, die verdeckte Gewalt als real ausgeübte sichtbar zu machen, sei abenteuerlich, zumal es in Deutschland 1967 keine revolutionäre Situation gebe. Dutschke riskiere bewusst das Leben anderer Studierender. Dafür bezichtigte Habermas Dutschke des »Linksfaschismus«.
Die Medien stürzten sich natürlich auf diesen Vorwurf – erst Jahre später nahm Habermas ihn öffentlich zurück. Dutschke entgegnete, dass organisierte Gegengewalt zum Selbstschutz notwendig sei. »Der Vorwurf des Voluntarismus ehrt mich«, sagte er. Habermas’ Reden von der »Objektivität« dienten ausschließlich dazu, die Bewegung zurückzuhalten.
Jedoch lag Habermas mit seinem Vorwurf des Voluntarismus nicht völlig falsch – auch wenn dieser keinesfalls auf die Proteste gegen den Schah zutraf und für den Tod des Studenten Benno Ohnesorg einzig und allein die Berliner Polizei und ihre politische Führung verantwortlich waren, die den brutalen Einsatz der Staatsgewalt geplant hatten (»Leberwursttaktik«). Recht hatte Habermas mit seiner Analyse, dass die politische Situation in Deutschland 1967 nicht revolutionär war. Und nur eine solche objektiv revolutionäre Situation könnte den Einsatz militärischer Gewalt rechtfertigen.
»Subjektiver Faktor« und »Propaganda der Tat«
Allerdings argumentierten Rudi Dutschke und seine Anhängerinnen und Anhänger anders: Sie waren der Ansicht, dass der entwickelte Kapitalismus immer in einer »objektiv revolutionären Situation« sei. Damit meinten sie, es gebe genügend gesellschaftlichen Reichtum, um die Welt von Hunger und Krieg zu befreien und eine sozialistische Weltgesellschaft zu erschaffen.
Das war natürlich auch richtig. Aber unter welchen Bedingungen kann eine »objektiv« revolutionäre Situation auch zu einer subjektiv revolutionären umschlagen? In seinem Tagebuch stützt sich Rudi auf das Beispiel von Che Guevara und dessen Guerillakriegtaktik in Bolivien und schreibt, »dass Revolutionäre nicht immer auf die objektiven Bedingungen für die Revolution zu warten haben, sondern dass sie über den Focus, über die bewaffnete Avantgarde des Volkes die objektiven Bedingungen für die Revolution durch subjektive Tätigkeit schaffen können«. Als Rudi dies schrieb, war Che Guevara bereits vom bolivianischen Militär getötet worden und sein Versuch, die Erfahrungen Kubas auf Bolivien zu übertragen, gescheitert. Der bewaffnete Kampf der Guerilla hatte die bolivianischen Bauern und Arbeiter nicht erreicht, obwohl gerade Bolivien schon damals eine ansehnliche Tradition revolutionärer Klassenkämpfe hatte.
Auf einer Delegiertenkonferenz des SDS im September 1967 forderte Rudi, dass die von Che Guevara ausgerufene »Propaganda des Schießens« in den Entwicklungsländern ergänzt werden müsse durch eine »Propaganda der Tat« in den entwickelten Industriestaaten. Dabei berief er sich auch auf den russischen Anarchisten Bakunin und verteidigte dessen Ansichten gegen Marx. Dieser hatte Bakunin Voluntarismus vorgeworfen, also eine Politik ohne eine wissenschaftliche und nüchterne Analyse der Klassenkämpfe und des Kapitalismus in seiner Dynamik, in welcher der Wille und die entschlossene Tatkraft einzelner, oder revolutionärer Gruppen, die einzige Voraussetzung für eine erfolgreiche revolutionäre Strategie sind. So richtig Rudi mit seiner Kritik am einseitigen Materialismus der »Traditionalisten« lag, muss zugleich gesagt werden, dass er dazu tendierte, die Autonomie des »subjektiven Faktors« im Sinne des Anarchismus zu überschätzen – zumindest theoretisch.
Im Umfeld des SDS (aber nicht im SDS) gab es einige Linke, die einen solchen falschen Voluntarismus konsequent zu Ende dachten: Die Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhoff schlug mit der Gründung der »Roten Armee Fraktion« (RAF) den Weg einer Stadtguerilla ein. Zwar bildete der theoretische Voluntarismus von Rudi eine Brücke dorthin, aber er war viel zu sehr revolutionärer Realist, um das politische Abenteurertum der RAF mitzutragen. Zur Ermordung von Managern oder Ministern aufzurufen, sei »konterrevolutionär«, argumentierte er, da solche Charaktermasken jederzeit durch andere ersetzbar seien. Deshalb ist auch der immer wieder erhobene Vorwurf gegen Dutschke falsch, er sei der geistige Vater der RAF. Er hat nie die Gründung einer militärisch operierenden Stadtguerilla in Deutschland propagiert oder auch nur in Ansätzen zu verwirklichen versucht. Er wusste, dass der bewaffnete Kampf unweigerlich in die Illegalität führt und dass dies das Ende der Massenaktionen und der Massenaufklärung bedeutet hätte, für die Rudis Taktik stand.
Organisation, Bewegung und Klasse
Dutschkes Interpretation des Marxismus wies aber eine weitere Schwäche auf. Wohl auch unter Berufung auf Bakunin und die Anarchisten nannte er seinen Flügel im SDS die »Antiautoritären«. Der Begriff hatte eine doppelte und zwiespältige Bedeutung: Zunächst bezog er sich darauf, dass ein Kampf gegen den deutschen Staat und überflüssige autoritäre Strukturen in der Gesellschaft, in Schulen und in der Erziehung überhaupt geführt werden müsste. In einem Staat, dessen Repressionsorgane Armee, Polizei und Justiz immer noch stark von der Naziherrschaft geprägt waren, war dies durchaus angemessen. Aber »antiautoritär« bedeutete aus Sicht der »Antiautoritären« auch die Abschaffung fester Organisationsstrukturen des SDS als »sozialdemokratische« Überbleibsel. Damit trugen Rudi und seine Anhängerinnen und Anhänger dazu bei, den SDS als Organisation in die Bewegung aufzulösen, obwohl auch Rudi selbst ohne den organisierten SDS nicht die Wirkung hätte entfalten können, die er hatte.
Und es ist noch eine dritte Schwäche in den Ideen Rudi Dutschkes zu nennen. Unter dem Einfluss von Herbert Marcuse hatte er Mitte der 1960er Jahre die Arbeiterklasse der entwickelten Länder als Subjekt revolutionärer Veränderungen abgeschrieben. Seine Begründung lautete, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in Deutschland und den anderen entwickelten westlichen Industriestaaten durch einen hohen Lebensstandard und durch die ideologische Manipulation der Medien korrumpiert seien. Nun sei es die Aufgabe einer Avantgarde von Studierenden, die Universitäten in befreite Zonen zu verwandeln, von denen aus dann der Kampf gegen die staatlichen Institutionen geführt werden müsse.
Die Geschichte der 68er-Bewegung zeigt, dass die Studierenden die Funktion eines Zündfunkens für allgemeine gesellschaftliche Unruhen und Klassenkämpfe einnehmen konnten. Aber nirgends konnten sie als Studierende diesen Prozess der Verallgemeinerung weiter vorantreiben, vor allem nicht gegenüber den großen Massen der arbeitenden Bevölkerung in Betrieben und Büros.
Der SDS hätte sich auch aufgelöst, wenn die »Antiautoritären« die Auflösung in die Bewegung nicht absichtlich gefördert hätten. Er zerbrach über die »Organisationsfrage«, die Frage, wie die Studierenden-Avantgarde sich in eine Arbeiteravantgarde transformieren könnte, wie ein Aufstand von Studierenden in einen allgemeinen Aufstand von Arbeiterinnen und Arbeitern überführt werden könnte und welche Organisationsformen dazu notwendig wären. Aus Mangel an Alternativen wählte die große Mehrheit der SDS’ler den Weg in eine der nun entstehenden maoistischen Parteien oder zur DKP. Damit aber wählten sie auch Wege zurück zum Stalinismus, der 1968 kaum eine Rolle gespielt hatte. Viele der »Traditionalisten« gingen zur neu gegründeten DKP und zu deren 1971 gegründeten Studierendenorganisation, dem MSB Spartakus. Auch das war ein politischer Rückfall in einen neostalinistischen, dogmatisierten »Marxismus-Leninismus«.
Niedergang der 68er-Bewegung
Zwischen dem Ende der 1970er und den frühen 1980er Jahre lösten sich die maoistischen Parteien, die Mitte der 1970er Jahre zusammen etwa 15.000 bis 20.000 Anhänger hatten, auf. Die Mehrheit zog sich ins Privatleben zurück, nicht wenige machten bürgerliche Karrieren, und eine relevante Minderheit schloss sich den Grünen an. Der Teil der »Traditionalisten«, der zur DKP gegangen war, löste sich mit der Krise der Partei infolge des Untergangs des »real existierenden Sozialismus« auf, wie die staatskapitalistischen Länder beschönigend benannt und verkannt wurden. Von den knapp 50.000 Mitgliedern blieben in den 1990er Jahren geschätzte 3000 übrig.
Die Gründe für die Auflösung liegen auf der Hand: Die stalinistischen und neostalinistischen Parteien, die sich entweder an Moskau oder an Peking orientiert hatten, gingen mit ihren Idealen unter, im Fall von China mit dem Übergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft unter Beibehaltung einer marxistischen Ideologie. Die Idealisierung der stalinistischen Parteien Chinas, Vietnams oder Kambodschas, die in ihren Ländern erfolgreiche nationale Befreiungskämpfe gegen den Imperialismus (Japan, Frankreich, USA) geführt hatten, rächte sich später durch einen Prozess der Desillusionierung. Daneben spielten aber auch »objektive« Faktoren eine Rolle. Die revolutionäre Welle von Klassenkämpfen, die 1968 mit dem französischen Generalstreik begann und mit dem Ende der Portugiesischen Revolution 1974 auslief, hatte den Glauben an die revolutionäre, gesellschaftsverändernde Kraft des modernen Proletariats genährt. Ende der 1970er Jahre begann eine Phase des Niedergangs der Klassenkämpfe, die bis heute nicht überwunden ist. Der revolutionäre Optimismus, der die 68er geprägt hatte, schlug um in einen grassierenden Pessimismus. Gerade auch viele Intellektuelle wandten sich von den Ideen des Klassenkampfs und des Sozialismus ab. Der spätere grüne Außenminister Joschka Fischer schrieb 1981 stellvertretend für sie einen Artikel mit dem Titel »Lebt wohl, Verdammte dieser Erde«. So gesehen sind die Grünen ein Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung, ein Weg der verlorenen Söhne und Töchter zurück in die bürgerliche Gesellschaft, aus der die meisten ursprünglich kamen und mit der sie 1968 gebrochen hatten.
Das Erbe von Rudi Dutschke
Rudi starb 1979 an den Spätfolgen des Attentats, das 1968 auf ihn verübt worden war. Aber die 68-Bewegung, in der er eine so zentrale Rolle gespielt hat, kann für uns heute eine große Inspiration sein, wenn wir bereit sind, ihre Stärken und Schwächen aufzuarbeiten. Die größte Stärke war die Wiederentdeckung des »subjektiven Faktors« und der revolutionären Tatkraft durch den antiautoritären Flügel des SDS unter Leitung Rudi Dutschkes. Es war zugleich ein ideologischer Bruch mit Reformismus und Stalinismus, dem politisch verfeindeten Zwillingspaar, das die größte Niederlage der Geschichte der Arbeiterbewegung vor dem Hitler-Faschismus 1933 zu verantworten hat.
Die Tragödie der westdeutschen 68er-Bewegung ist, dass sie über die Hintertür des Maoismus wieder im Stalinismus versandete. Es gab im revolutionären SDS – anders als in Frankreich und Großbritannien – keine organisierte undogmatische und antistalinistische Strömung, die an den revolutionären Ideen von Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki hätte anknüpfen können.
Die Gründe für den revolutionären Sturz des Kapitalismus sind heute mit der schleichenden Klimakatastrophe, der anhaltenden Stagnationskrise des Weltkapitalismus und der sich verschärfenden inter-imperialistischen Konflikte und Kriegsgefahren und der skandalösen Verteilung von unermesslichem Reichtum in den Händen weniger und der gleichzeitigen Verbreitung von Hunger und Elend, drängender denn je.
Foto: Ben van Meerendonk / AHF / Collectie IISG Amsterdam / flickr.com / CC BY-SA
Schlagwörter: 1968, 68er, 68er-Bewegung, Dutschke, Rudi Dutschke, SDS, Studentenrevolte