Ein Beitrag über das Verhältnis von Atheismus, Säkularismus und Religionsfreiheit – oder: Warum »Opium des Volkes« eine der am häufigsten falsch zitierten und interpretierten Textstellen des Marx’schen Werkes ist. Von Kate Davison
Karl Marx war Atheist und Kritiker jeglicher Religion. Einer seiner meistzitierten Aussprüche lautet: »Religion ist das Opium des Volks«. Doch er meinte damit nicht nur – wie oft behauptet –, dass Religion von oben verordnete »Volksverdummung« sei. Es lohnt sich daher, den Absatz genauer zu betrachten: »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. (…) Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.«
Hier konkurrieren zwei Aussagen, die dem realen Doppelcharakter von Religion entsprechen. Einmal dient Religion den leidenden Menschen als Trost, als schmerzlinderndes Betäubungsmittel, andererseits wird sie als eine Form des Protests »gegen das wirkliche Elend« bezeichnet. Marx und Engels waren Anhänger einer materialistischen Weltsicht, die menschliche Handlungen als bestimmende Faktoren des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausmacht.
Das bedeutet jedoch nicht, dass sie einem statischen, unhistorischen Verständnis von Religion als ausschließlich reaktionärer Ideologie im Interesse der herrschenden Klassen anhingen oder dass aus ihrer Sicht religiöse Menschen und religiöse Ideen in bestimmten Epochen nicht auch fortschrittliche und sogar revolutionäre Wirkung haben konnten.
Deshalb lehnten sie auch einen militanten Atheismus ab, der das Verbot von Religion als politisches Ziel ausgab. Ihrer Meinung nach würde Religion nicht »abgeschafft«, sondern im Verlaufe der gesellschaftsverändernden Klassenkämpfe von selbst an Bedeutung verlieren und schließlich eines natürlichen Todes sterben.
Religion als widersprüchliches Phänomen
Weil Religion zum einen ein Mittel zur Unterdrückung und zum anderen Ausdruck des Kampfs gegen Ungerechtigkeiten sein kann, konnte die Bibel eine Inspiration für Martin Luther King wie auch für rassistische Ku-Klux-Klan-Mitglieder sein. Unter Berufung auf den Koran (aber auch auf die Bibel) werden Frauen unterdrückt. Gleichzeitig ließen sich die Revolutionärinnen der arabischen Revolution aber auch vom Koran inspirieren.
Um zu verstehen, was diese Analyse der Religion als widersprüchliches Phänomen (Lese hier einen Artikel zur Frage: »Ist Religion immer rechts?«) für die praktische Politik von Linken bedeuten kann, lohnt ein Blick in die Geschichte. Die Debatten des 21. Jahrhunderts haben erstaunliche Ähnlichkeiten mit denen im 19. und 20. Jahrhundert. Es ist keinesfalls überraschend, dass der Begriff »Kulturkampf« in letzter Zeit so freizügig in Zeitungen verwendet wird. Ein großer Teil der Rhetorik, die wir in Frankreich zum Thema Kopftuch, in der Schweiz zum Minarettverbot oder in Deutschland zu Salafismus hören, ähnelt der des Kulturkampfs, den Bismarck in den 1870er Jahren führte. Diese staatlich geführte Kampagne zur Verunglimpfung einer Religion zielte auf die Unterdrückung der Religionsfreiheit der katholischen Jesuiten ab.
Wer sich den Wikipedia-Eintrag zum Kulturkampf anschaut und dabei gedanklich das Wort »Katholik« durch »Muslim« ersetzt, wird erkennen, wie sehr sich die Stimmung in der »westlichen Welt« von damals der von heute ähnelt. Im Mittelpunkt von Bismarcks Vorgehen stand das Verbot politischer Äußerungen durch Geistliche von der Kirchenkanzel herab. Aber das war nur eine von zahlreichen Maßnahmen, die sich gegen Katholikinnen und Katholiken wandten und eine allgemeine antikatholische Stimmung in der Gesellschaft schaffen sollten, um die Macht der herrschenden Klasse zu stärken und das neue Deutsche Reich gegen Instabilität abzusichern. August Bebel, der Gründer der Sozialdemokratischen Partei, wandte sich im Jahr 1872 im Reichstag gegen Bismarck und bezog Position gegen ein Verbot des reaktionären Jesuitenordens, des Horts der Gegenreformation und der Gegenaufklärung. Damit stellte er sich gegen die Mehrheit der Liberalen und demokratischen Linken, die Bismarcks Gesetzgebung im Namen der Aufklärung und der Trennung von Staat und Kirche unterstützten. Um dieselbe Zeit kämpfte Engels gegen starke Tendenzen in der Sozialdemokratie, den Kampf gegen Religion ausdrücklich in das Parteiprogramm aufzunehmen. Er hielt dies für einen Fehler, der die Partei von der Mehrheit der gläubigen Arbeiterinnen und Arbeiter abgeschnitten hätte. Schließlich wurde die Position von Marx und Engels im Programm von 1891 übernommen, indem die SPD Religion zur Privatsache erklärte. Die programmatische Festschreibung des Atheismus war damit gescheitert.
Religion, Säkularismus und Rassismus
Bismarcks »Kulturkampf« gegen die katholische Kirche macht deutlich, dass Säkularismus immer auch für reaktionäre politische Zwecke instrumentalisiert werden kann. Das zeigt auch die jüngere Geschichte Frankreichs. Das Ideal des Säkularismus wurde dort im letzten Jahrzehnt zunehmend von Rechten benutzt, um eine unerbittliche antimuslimisch-fremdenfeindliche Kampagne zu betreiben. Der britische Autor Jim Wolfreys nennt als Beispiel die Kontroverse um ein städtisches Schwimmbad in Lille im Jahr 2003. In diesem Bad wurden mit der Zustimmung der sozialistischen Bürgermeisterin Martine Aubry getrennte Wassergymnastikkurse für Frauen angeboten. Die Frauengruppe bestand zwar aus Angehörigen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, doch da sich auch Muslimas darunter befanden, wurden die exklusiven Nutzungszeiten für Frauen und der Einsatz ausschließlich weiblicher Anleiterinnen als Affront gegen die säkularen Prinzipien der Republik gesehen. Politikerinnen und Politiker der konservativen UMP und andere warfen Aubry vor, die Befindlichkeiten der Muslime bevorzugt zu haben. Schließlich gab die Stadt nach; ein Repräsentant des Rathauses bemerkte, es sei ihre »Pflicht, die Neutralität des öffentlichen Dienstes zu verteidigen, die hier auf dem Spiel steht«. Etwa ein Drittel der Frauen verließ den Kurs. Die Angelegenheit wurde zu einem so gewichtigen Streitthema, dass der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy den Vorgang im März 2012 auf einer seiner Wahlkampfveranstaltungen wieder zur Sprache brachte. Er lieferte ein anschauliches Beispiel dafür, wie republikanische Werte im Dienste eines impliziten Rassismus mobilisiert werden können: »Auf dem Territorium der Republik wollen wir – so leid es uns tut, Madame Aubry – dieselben Öffnungszeiten von Schwimmbädern für Männer wie für Frauen.«
Wie Wolfreys darlegt, dienten diese Verweise Sarkozys auf die republikanische Tradition auch dazu, das massive soziale Kürzungsprogramm während der tiefsten Wirtschaftskrise in Europa seit den 1930er Jahren zu übertünchen: »Unfähig, Antworten auf die drängenden großen Probleme der Bevölkerung zu finden, hat sich die republikanische Staatsmacht dafür entschieden, sich stattdessen damit zu befassen, was muslimische Mädchen und ihre Mütter auf ihren Köpfen tragen, wie ihr Essen zu etikettieren ist, wo sie beten, und mit wem sie Wassergymnastikkurse machen dürfen.«
Als einen der wichtigsten Punkte spricht Wolfreys an, dass sich weite Teile der Linken in der Debatte über den Schleier zu Komplizen Sarkozys machten, indem sie den »Mythos vom fortschrittlichen republikanischen Säkularismus« stützten. Das trug jedoch nur dazu bei, »die diskriminierende Einstellung gegenüber der muslimischen Bevölkerung in Frankreich noch zu verstärken«. Das Ideal des Säkularismus, argumentiert Wolfreys, sei für die französische Linke zum »blinden Fleck« geworden, vor allem wenn es darum geht, dem faschistischen Front National entgegenzutreten. Jean-Luc Mélenchon vom Parti de Gauche (Linkspartei) unterstützte beispielsweise das Kopftuchverbot und kritisierte die antikapitalistische NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste) dafür, dass sie bei einer Kommunalwahl eine kopftuchtragende Kandidatin präsentierte.
Noch geschickter als Sarkozy bei der Mobilisierung republikanischer Stimmungen zu eindeutig islamophoben Zwecken ist der Front National, wenn die Partei beispielsweise behauptet, »Säkularismus wird einfacher werden, wenn erst einmal die Einwanderung gestoppt worden ist«, und folgerichtig vorschlägt, ein »Ministerium für Säkularismus und Einwanderung« zu schaffen. Der Front National greife den Säkularismus nur allzu gerne auf, schreibt Wolfreys, »nicht etwa um der Sache selbst willen, sondern weil dies eine Gelegenheit bietet, sich selbst als die eifrigsten aller Säkularisten darzustellen, als diejenigen, die die Autorität der Republik gegen ›Eindringlinge‹ verteidigen werden«. Dies zeige, dass »mit der Zeit solche ›universellen Werte‹ wie Säkularismus in ein nationales Erbe verwandelt werden können und damit Teil der ethnokulturellen Vision eines Guéant, eines Sarkozy oder eines Le Pen werden«.
Die Linke und die Religion
Es ist notwendig, dass Marxistinnen und Marxisten eine fundierte Kritik an Religion und ihrer Funktion im Kapitalismus formulieren. Aber wir müssen auch die Macht antimaterialistischer Ideen akzeptieren, die Menschen daran hindert, ihre Fähigkeit zu erkennen, die »herzlose Welt« des Kapitalismus zu zerstören und sie durch eine Gesellschaft zu ersetzen, in der die Menschen nicht auf ein Himmelreich als Lösung für ihre weltliche Armut warten müssen. Religionskritik bedarf einer Einschätzung der materiellen, geschichtlichen Umstände, auf denen die jeweilige Religion beruht und mit denen sie sich auch ändert. Andernfalls verkommt diese Kritik zu einem dogmatischen Hindernis für unsere Opposition gegen Faschismus, Rassismus und Unterdrückung. Einige Varianten des Islam sind reaktionär, ebenso wie einige Varianten des Christentums. Der Hindu-Nationalismus hat sich in der jüngeren Vergangenheit zum Bollwerk der indischen Rechten entwickelt, während die christliche Pfingstbewegung wesentlich dazu beigetragen hat, dem US-Imperialismus und seinen Kriegen Legitimität zu verleihen. Doch die Funktion und die Stellung des Islam in Deutschland und Europa sollte nicht verwechselt werden mit der Funktion und Stellung des Islam zum Beispiel in Saudi-Arabien, wo er Staatsreligion ist. Genauso wenig sollte das »christliche Abendland« Europa als idealtypisches Modell eines säkularen Staats missverstanden werden – schon gar nicht Deutschland mit seinem System der Kirchensteuer, von Italien, Frankreich oder Polen ganz zu schweigen.
Gefragt, wie sich Sozialistinnen und Sozialisten gegenüber Religion verhalten sollen, berichtete Lenin von einer Gruppe religiöser Arbeiterinnen und Arbeiter, die eine christliche Gewerkschaft gründeten und dann in den Streik traten. Was sollten Marxistinnen und Marxisten tun? Versuchen, die Streikenden vom Atheismus zu überzeugen? Nein, denn »ein Propagandist des Atheismus würde in einem solchen Augenblick und unter solchen Umständen nur dem Pfaffen und dem Pfaffentum Vorschub leisten, die nichts sehnlicher wünschen als eine Aufspaltung der Arbeiter nach dem Glauben an Gott anstatt ihrer Scheidung nach der Streikbeteiligung«. Für alle Marxistinnen und Marxisten ist, so Lenin, die Grundlage der Materialismus, demnach würden sie der Religion feindlich gegenüber stehen. Doch komme es darauf an, dialektischer Materialist und dialektische Materialistin zu sein, also den Kampf gegen die Religion nicht abstrakt zu führen, nicht auf dem Boden einer abstrakten, rein theoretischen, sich stets gleichbleibenden Propaganda, sondern konkret, auf dem Boden des Klassenkampfs, wie er sich in Wirklichkeit abspielt, der die Massen am meisten und am besten erzieht. Alle Marxistinnen und Marxisten müssen es verstehen, die ganze konkrete Situation zu berücksichtigen.
Wie hältst du’s mit der Religion?
Die Forderung, aktive Linke sollten davon Abstand nehmen, Seite an Seite mit Leuten gegen Nazis zu demonstrieren, deren Ideen in anderen Bereichen reaktionär sind, trägt keinen Deut dazu bei, säkulare Errungenschaften zu verteidigen. Vielmehr schwächt das verbissene Beharren von Linken an dem Ideal von »Säkularismus« in solchen Fällen unsere Fähigkeit, eine Einheitsfront gegen Rassismus aufzubauen und Seite an Seite mit einer Gruppe von Menschen zu stehen, die in Europa als Staatsfeindin Nummer eins angesehen wird. Der französische Marxist Gilbert Achcar bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: »Islamophobie ist objektiv der beste Verbündete des islamischen Fundamentalismus: Ihr jeweiliges Wachstum bedingt einander. Je mehr die Linke den Eindruck erweckt, dass sie sich der vorherrschenden Islamfeindlichkeit unterordnet, desto weiter entfernt sie sich von der muslimischen Bevölkerung und desto mehr wird sie die Arbeit der islamischen Fundamentalistinnen und Fundamentalisten erleichtern, die dann als die einzige Gruppe erscheinen, die in der Lage ist, dem Protest der jeweiligen Bevölkerung gegen das wirkliche Elend Ausdruck zu verleihen.«
Linke müssen daher die Religionsfreiheit aller bedingungslos verteidigen. Andernfalls beteiligen wir uns nicht nur an dieser Form der Unterdrückung, sondern spalten uns von eben jenen Menschen ab, die wir motivieren wollen, gemeinsam mit uns für umfassende – nicht nur religiöse – Freiheit zu kämpfen.
Zum Text: Dies ist eine Kurzfassung: Den ungekürzten Artikel findest du hier. Die Langversion steht auch als pdf Download bereit.
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