Ver.di hat in der Charité in Berlin, dem größten Universitätsklinikum Europas, das erste Mal eine Tarif-Regelung über die Zahl der Beschäftigten erreicht. Wie das gelang, erklärt Carsten Becker, Vorsitzender der ver.di-Betriebsgruppe im marx21-Gespräch.
marx21.de: ver.di hat Anfang Juni einen so genannten Test-Tarifvertrag über die Mindestpersonalbesetzung in der Charité abgeschlossen. Warum war das notwendig?
Carsten Becker: Die Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern sind miserabel. Es gibt viel zu wenig Personal. Dadurch stehen insbesondere die Schwestern und Pfleger unter enormem Stress und jeden Tag werden die Gesundheit und das Leben vieler Patienten gefährdet.
Was wurde vereinbart?
Ein Tarifvertrag als Testlauf, in dem zunächst 80 neue Vollzeitstellen geschaffen werden sollen, befristet bis Ende des Jahres.
Ist das ein Erfolg?
Ja, weil wir damit einen ersten solchen Tarif für Personalbemessung im Krankenhaus abgeschlossen haben und damit ein deutliches Signal an der Charité, in Berlin und bundesweit gesetzt haben. Aber sowohl wir als auch der Vorstand der Charité wissen, dass die Arbeitsbedingungen mit 80 neuen Stellen nicht nennenswert verbessert werden. Deswegen ist es nur ein erster Schritt, ein Testlauf. Der eigentliche Tarifvertrag wird nächstes Jahr abgeschlossen.
Bisher entscheiden in Krankenhäusern allein die Arbeitgeber über die Zahl der Beschäftigten. Ist der Charité-Vorstand besonders sozial?
Nein, auch wenn er sich als erster Arbeitgeber auf einen solchen Tarif einlässt. Als wir 2012 das erste Mal eine Mindestbesetzung gefordert haben, behauptete der Vorstand, wir würden gegen das Grundgesetz verstoßen, und zwar gegen das Recht auf unternehmerische Freiheit.
Stimmt das?
Nein, das hat ver.di lange und intensiv geprüft. Wir haben auch ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, das unsere Rechtsauffassung bestätigt. Das war ein langes Ringen und hat uns an der Charité ein Jahr gekostet.
Für Beschäftigte und Patienten ist eine solche juristische Debatte eher unverständlich. Immerhin geht es im Krankenhaus um Menschen und Menschenleben, jeden Tag und jede Nacht. Und da ist das Verhältnis von Personal zu Patienten die versorgt werden, für beide Seiten wichtig.
Wie ist eure Kampagne für die Mindestbesetzung entstanden?
Wir haben während der Tarifverhandlungen 2011 gestreikt. Damals ging es zwar um höhere Löhne, aber viele Kolleginnen haben gesagt: »Unser größtes Problem sind die Arbeitsbedingungen und die geringe Wertschätzung unserer Arbeit.« Als Ursache nannten viele, dass es zu wenige Schwestern und Pfleger gibt.
Wie ging es weiter?
2012 hat der Vorstand die Lage weiter verschlechtert, indem keine Leiharbeitskräfte mehr eingestellt wurden, ohne sie zu ersetzen. Gleichzeitig hatte ver.di die Kampagne »Der Druck muss raus« für bessere Arbeitsbedingungen im Krankenhaus gemacht. Wir nahmen daran teil, indem wir dafür gekämpft haben, eine Mindestbesetzung im Tarifvertrag festzuschreiben.
Was fordert ihr genau?
Wir wollen, dass es zwischen Krankenschwestern und Patienten ein Verhältnis von 1:2 auf Intensivstationen gibt. Auf Normalpflegestationen fordern wir 1:5. Derzeit ist es dort etwa 1:12. Und wir wollen »keine Nacht allein« im Dienst.
Die Zahl der Beschäftigten müsste sich also sehr stark erhöhen. Ist das nicht eine unrealistische Forderung?
Wir orientieren unsere Forderung am medizinisch notwendigen und nicht an den Wünschen von Krankenhaus-Managern und Politikern. Das Verhältnis 1:5 ist beispielsweise in Kalifornien gesetzlich vorgeschrieben. Auch in den Krisenländern Griechenland und Spanien ist das Betreuungsverhältnis besser als in Deutschland. Wir können uns nicht mit kleinen Schritten zufriedengeben, wenn es um Menschenleben geht.
Wie habt ihr den Vorstand dazu bewegt, seine »Unternehmerische Freiheit« beschränken zu lassen?
Wir haben ihm gezeigt, dass wir unsere Ziele notfalls mit Streiks durchsetzen. Dafür haben wir seit 2011 ein Streik-Konzept für Krankenhäuser entwickelt, das nicht zulasten von Patienten geht und für das Krankenhaus hohe Einnahme-Verluste bedeutet.
Wie funktioniert das?
Bisher verursachen Streiks in Krankenhäusern meist wenig Kosten, weil eine Mindestbesetzung bestehen bleibt, um die Patienten nicht zu gefährden. Bei den wenigen Beschäftigten, die wir haben, bedeutet das leider, dass kaum gestreikt werden kann, weil das Wohl der Patienten im Vordergrund steht.
Und bei eurem Konzept …
… sperren wir im Streik zahlreiche Betten und komplette Stationen. Dadurch können weniger neue Patienten aufgenommen werden und das Krankenhaus erleidet finanzielle Verluste, weil Betten und Operationssäle leer bleiben. Die Patienten werden dann in andere Krankenhäuser eingewiesen.
Unser Slogan ist: »Nicht der Streik gefährdet die Patienten, sondern der Normalzustand.«
Ver.di fordert, dass eine Mindestbesetzung in Krankenhäusern deutschlandweit gesetzlich festgeschrieben wird. Wäre das nicht besser?
Ja. Aber wenn wir darauf warten, dass die Regierung diese Mindestbesetzung einführt, warten wir wie lange? Wir fordern seit Jahren eine gesetzliche Regelung, aber es ist nichts passiert. Das ist keine Perspektive für uns.
Die Frage ist also: Wie können wir genug Druck aufbauen, um mittelfristig ein entsprechendes Gesetz zu erzwingen? Deshalb kämpfen wir dafür, die Mindestbesetzung jetzt in den Tarifvertrag der Charité zu schreiben.
Könnte ein Erfolg bei euch auch Beschäftigten in anderen Krankenhäusern nutzen?
Eine Mindestbesetzung in der Charité könnte ein Motivationsschub für andere Belegschaften sein. Die Unterbesetzung gibt es in allen Krankenhäusern. Wenn sich Kolleginnen in vielen Häusern bundesweit mit uns auf dem Weg machen, wir in diesem halben Jahr Testlauf an der Charité eine »Koalition der Willigen« bundesweit bilden, dann ist das ein deutliches Signal an die Arbeitgeber, an die Politik und in die Gesellschaft hinein. Dann kann es sich nicht nur bei uns bessern, sondern dann haben wir auch Druck in Richtung Gesetz.
Nach dem Ratschlag der Linksfraktion zum Pflegenotstand am 27. Juni habt ihr ein Vernetzungstreffen von Krankenhaus-Personalräten organisiert. Wie lautete deine wichtigste Botschaft an die Kollegen?
Wir müssen aufhören, nur über die Arbeitsbedingungen zu schimpfen und anfangen, selber dagegen zu kämpfen. Wir können das. Wir müssen Mut fassen und die ersten Schritte gehen, um Druck machen zu können. Denn »uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun«.
Kann ver.di einen solchen Kampf wirklich führen?
Natürlich kann unsere Gewerkschaft das. Der ver.di-Fachbereich »Gesundheit und Soziales« hatte letztes Jahr prozentual den stärksten Mitgliederzuwachs. Die Kolleginnen im Krankenhaus sind unzufrieden, wütend und viele sind auch bereit, etwas zu tun.
Die Frage ist, ob wir dieses Potenzial deutschlandweit nutzen, um größeren Druck auf die Politik aufzubauen. Es ist eine Chance, die Gewerkschaften wieder aufzubauen, eine Chance, eine große Kampagne gegen die Regierung zu führen.
Die Fragen stellte Hans Krause.
Schlagwörter: Care, Charité, Gesundheit, Krankenhaus, Mindestpersonalbesetzung, Pflegenotstand, Ver.di, Verdi