In den letzten 50 Jahren hat sich das Leben von Frauen dramatisch geändert. Doch die Unterdrückung ist geblieben, sie ist heute nur anders strukturiert. Eine Bestandsaufnahme Von Silke Stöckle und Kate Davison.
Eine inzwischen verstorbene prominente Sprecherin der feministischen Bewegung, Dr. Margarete Mitscherlich-Nielsen, vertrat 2007 die Auffassung: »Dieser Kampf [um die Gleichstellung der Frauen] ist ja weitgehend gewonnen«.1 Ist diese optimistische Einschätzung gerechtfertigt? Nur wenn wir oberflächlich auf der Ebene der Gewährung voller Bürgerrechte für Frauen bleiben, die weitgehend abgeschlossen ist, trifft diese Behauptung zu. In der marxistischen Analyse besteht der Kern der Frauenunterdrückung im Kapitalismus aus der Ausbeutung von Frauen als Lohnarbeiterinnen zu schlechteren Konditionen als Männern kombiniert mit der Bürde der unbezahlten Haus- Erziehungs- und Pflegearbeit, die normalerweise im Rahmen der Familie geleistet wird. Darauf baut die ideologische Ebene auf: Das heutige Frauenbild entspricht nicht mehr dem alten (westdeutschen) Stereotyp der hingebungsvollen Nurhausfrau und Mutter. Doch auch das neue Frauenbild ist hochgradig problematisch: Eine Frau soll heute Supermutter, Superarbeiterin und Supersexy-Partnerin in einem sein. Das führt zu permanenter Überforderung und oft genug zu einer Erschütterung des Selbstwertgefühls. Dieser Alltagsdruck kann auch durch ein anderes Frauenbild nicht abgeschafft werden, denn er entsteht aus realen gesellschaftlichen Umständen.
Diese stellen sich so dar: Während 2002 noch 65,3 Prozent aller Frauen erwerbstätig bzw. arbeitssuchend waren, stieg der Anteil der erwerbstätigen und arbeitssuchenden Frauen im Jahre 2012 auf 71,6 Prozent.2
Je höher das Qualifikationsniveau der Berufe, desto stärker ist der Frauenanteil gewachsen: in mittelqualifizierten Berufen um sieben, in hochqualifizierten Berufen wie Zahntechnikerin oder Dolmetscherin um neun und in akademischen Berufen um 16 Prozentpunkte.3
Diese Verteilung korrespondiert mit dem vermehrten Zugang von Frauen zu höherer Bildung. Der weibliche Anteil an den Studierenden ist von 39,2 Prozent im Jahr 1991 bis auf 47,8 Prozent bzw. auf fast die Hälfte aller Studierenden im Jahr 2012 angestiegen. Ähnlich sieht es bei den höheren Bildungsabschlüssen aus. Im Wintersemester 2014/15 hatten sich erstmals mehr weibliche als männliche Studierende an den deutschen Hochschulen eingetragen.
Frauen sind also ein integraler Bestandteil der modernen Arbeiterklasse. Lohnarbeit für Frauen ist die von Frauen und auch Männern akzeptierte und gewollte gesellschaftliche Norm: Laut einer Studie unter jungen Männern und Frauen (Alter 18–28) sind für 91 Prozent der befragten Frauen Erwerbsarbeit und eigenes Geld sehr wichtig. Bemerkenswert ist der Wertewandel der Männer: 76 Prozent der Männer wollen heute eine Partnerin, die »sich um den eigenen Unterhalt kümmert« (2007: 54 Prozent). Selbst wenn Frauen eine Familie gegründet und Kinder bekommen haben, bleiben sie auf Erwerbsarbeit orientiert. Der Anteil von Frauen, denen Familie heute wichtiger ist als die eigene Erwerbstätigkeit, liegt bei unter 5 Prozent.4
Das alte Modell der Hausfrauenehe mit dem Mann als Alleinernährer ist also weitgehend abgeschafft. An seine Stelle ist aber keineswegs ein »Egalitätsmodell« getreten, in dem Partnerin und Partner Vollzeit beschäftigt sind und gleichermaßen zum Unterhalt beitragen, sondern das »modernisierte Ernährermodell« (Vater in Vollzeit, Mutter in Teilzeit). Und dies nicht, weil es der Ehepartner so will, sondern weil die Umstände (Lohndifferenzen, Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Fahrtzeiten, Arbeitsangebote) diese Arbeitsteilung der Geschlechter erzwingen.5
Die nackten Zahlen: Die Lücke zwischen den Löhnen von Männern und Frauen (Gender Pay Gap) ist in Deutschland zwischen 1999 (19 Prozent) und 2007 (23 Prozent) sogar weiter angewachsen und war wesentlich höher als im Durchschnitt aller EU Staaten (17 Prozent).
Die ökonomische Schlechterstellung der Frau und das dominierende Mann Vollzeit/Frau Teilzeit-Modell untergräbt auch bei den Gutwilligsten Versuche einer egalitäreren Verteilung der Hausarbeit. Frauen verbringen durchschnittlich 164 Minuten am Tag mit Kinderbetreuung, Putzen, Kochen oder Bügeln, Männer 90 Minuten – im Wochenschnitt ein Unterschied von 6,6 Stunden.6
Schlechterstellung im Beruf, Mehrbelastung im Haushalt – daran zerschellen Lebensentwürfe von Frauen. In der oben zitierten Studie äußern 93 Prozent der Frauen einen Kinderwunsch. Nicht einmal die Hälfte der Frauen setzten diesen Wunsch in der Laufzeit der Studie um – weil sie zu Recht befürchten müssen, nach der Geburt auf Teilzeitarbeit und den überwiegenden Teil der Hausarbeit festgenagelt zu bleiben. So hat sich die Anzahl der Geburten pro Frau in den letzten 40 Jahren halbiert: auf 1,4 Geburten pro Frau.7
Eine weitere Dimension der Frauenunterdrückung sind Belästigung und Gewalt. Sexuelle Belästigungen erfahren Frauen in Deutschland leicht über dem EU Durchschnitt.8 22 Prozent aller Frauen ab 15 Jahren gaben 2012 an, in irgendeiner Form im vergangenen Jahr sexuell belästigt worden zu sein, 15 Prozent davon gaben an, zum Beispiel gegen ihren Willen zum Küssen oder zu Umarmungen gezwungen worden zu sein. Über ein Drittel (35 Prozent) aller Frauen in Deutschland haben bereits körperliche und/oder sexuelle Gewalt ab ihrem 15. Lebensjahr erfahren, im europäischen Durchschnitt liegt der Wert bei 33 Prozent.9
Im Jahr 2011 wurden 313 Frauen in Deutschland getötet. Bei 154 Frauen war der aktuelle oder ehemalige Lebenspartner der Täter. Auch Mädchen werden häufig Opfer von Gewalt. Laut einer repräsentativen Befragung erfahren 44 Prozent aller Frauen körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt in ihrer Kindheit.10 Damit befindet sich Deutschland im europaweiten Vergleich im gewaltbereiten vorderen Drittel. 13 Prozent der Frauen in Deutschland geben sexuell Gewalterfahrungen in der Kindheit an und führen damit mit Belgien (14 Prozent) und Dänemark (13 Prozent) das europaweite Feld an.
Eine Frage der Klasse
Alle Frauen sind unterdrückt. Aber: Nicht alle Frauen sind gleich unterdrückt – auch eine Folge von vier Jahrzehnten neoliberalem Umbau. Die oben angeführten Zahlen zeigen es: Frauen sind zwar heute gesetzlich und politisch gleichberechtigt, zugleich sind sie in allen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem im Erwerbsleben nach wie vor unterdrückt und benachteiligt. Ob in der ungleichen Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter häuslicher Arbeit, ob in der ungleichen Bezahlung von Erwerbsarbeit und, damit zusammenhängend, hohen weiblichen Altersarmut, ob in der Frage sexistischer Gewalt gegen Frauen: Unterdrückung und Ungleichheit haben sich trotz formeller Gleichstellung nicht verringert sondern verschärft. Und dennoch treffen Ungleichheit und Unterdrückung nicht alle Frauen gleichermaßen. Frauen der herrschenden Klasse und des Mittelstands sind z.B. nicht oder nicht in gleicher Weise von der ungleichen Verteilung der unbezahlten, privaten Haus- und Pflegearbeit betroffen wie Frauen der Arbeiterklasse. Viele Frauen schildern ihren Alltag grade mit kleineren Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen als ständige Hetze zwischen Arbeitsstelle, Betreuung, Hausarbeit – ohne Zeit für sich zu haben und fast immer mit dem Gefühl, keiner Aufgabe zu genüge nachkommen zu können. Frauen und Familien mit höheren Einkommen können diese Situation abmildern und sich bezahlte Haushaltshilfen, Pflegekräfte und Kindermädchen leisten: »Solche Unterstützernetzwerke sind typisch für das Modell Powerpaar. Die Eltern nutzen verstärkt Babysitter, Haushaltshilfen und Einkaufsservices, fand die EAF-Studie heraus. Wenn Oma und Opa nicht vor Ort sind, verschlingen diese Dienstleistungen im Monat mehrere hundert Euro. Das Modell Powerpaar ist im Moment auch ein Modell Besserverdiener.«11
Der Klassenaspekt der Frauenunterdrückung hat sich durch Neoliberalismus und Krise noch verstärkt: Trotz offizieller Zusage auf einen garantierten Krippen-, Kita- und Hortplatz bleibt deren Ausbau schleppend, das Angebot völlig unzureichend. Die explosionsartige Ausdehnung prekärer, ungesicherter und unterbezahlter Teilzeitarbeit von Frauen, die sozialen Folgen der Hartz-Gesetze, die Aushöhlung und teilweise vollständige Aufkündigung von Tarifverträgen, Kürzungen im kommunalen Bereich, Sozialabbau und Privatisierung ehemals öffentlicher Dienstleistungen – all diese »Reformen«, mit denen Staat und Unternehmer sich versprechen, Gelder einzusparen, haben zu einem massiven Anstieg von Frauenarmut und Armut allgemein und zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben beigetragen.
Trotz offizieller Gleichstellungsgesetze haben alle Regierungen seit der Jahrtausendwende wie auch heute die große Koalition diese Politik der Diskriminierung und Verarmung gegen die große Mehrheit von Frauen weitergeführt.
Das Elterngeld, das es seit der schwarz-roten Regierung unter von der Leyen ab dem Jahr 2007 gibt, fördert besser verdienende Frauen stärker – und hat zu Einbußen gerade bei ärmeren Frauen geführt: Während gut verdienende Frauen bis zu 1800 Euro monatlich (2/3 des Gehaltes im Jahr vor der Geburt) ausgezahlt bekommen, erhalten Hausfrauen, Studentinnen, Geringverdienerinnen und Empfängerinnen von Sozialleistungen nur 300 Euro, und das nur noch 12 (Alleinerziehende 14) statt der ehemaligen 24 Monate des vorherigen Erziehungsgelds. Das entspricht einer Kürzung um bis zu 3600 Euro. Seit 2011 wird das Elterngeld voll auf andere Sozialleistungen angerechnet – was wiederum eine Kürzung bedeutet.
Auch wenn es ein Fortschritt ist, dass das Elterngeld nicht mehr pauschal auf 300 Euro pro Monat begrenzt ist, handelt es sich hier um massive Ungleichheiten, die auch die aktuelle schwarz-rote Regierung ignoriert. Mit der Verabschiedung des Betreuungsgeldes hat sich die schwarz-rote Bundesregierung dem wertkonservativen Flügel von CSU und CDU unterworfen und damit ein Signal für das untergehende Ernährer-Modell der Familie gesetzt. Unter dem Vorwand der Wahlfreiheit gewährt sie in neuer Form eine Herd- und Mutterprämie, um Frauen von einer gleichberechtigten Erwerbstätigkeit abzuhalten. 12
Der Anstieg »unüblicher Arbeitszeiten« – u.a. Arbeit in den späteren Tages- und Nachtstunden und am Sonntag durch die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten13 – führt zu einer stärkeren Belastung von Frauen. Sie müssen nun jenseits von Kita-Öffnungszeiten dafür sorgen, dass ihre Kinder irgendwie während ihrer Arbeitszeit betreut werden können. Diese Frauen gehören nicht zu den Gut- und Spitzenverdienerinnen, die sich die genannten Unterstützungsnetzwerke kaufen können.
Der gewünschte Effekt, durch das Elterngeld mehr Partnerschaftlichkeit in die Erziehungszeiten zu bringen, ist nur sehr begrenzt eingetreten. Die meisten Väter nehmen nur zwei Monate der Elternzeit in Anspruch: »Danach kehren sie meist ohne Stundenreduzierung wieder auf ihren Arbeitsplatz zurück, um ihr berufliches Fortkommen nicht zu gefährden. Solange die Einkommen der Frauen wesentlich unter denen ihrer Männer liegen, wird sich daran auch nichts ändern. Familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und nachgelagerte Teilzeitphasen sind mit deutlichen Lohneinbußen verbunden.«14 Laut der »Elternstudie 2009« der Zeitschrift ELTERN wünschen sich die Väter aber, deutlich weniger arbeiten und noch deutlich weniger Überstunden machen zu müssen.15 Die kürzeren Erziehungszeiten der Väter sind so eher den Lohnungerechtigkeiten als dem Unwillen, Familienarbeiten zu teilen, geschuldet.
Auch die Schlechterstellung auf dem Arbeitsmarkt, veranschaulicht im »Gender Pay Gap« von 23 Prozent, ist bei genauerem Hinsehen nicht gleich auf alle Schichten verteilt. Der Zugang zu hochqualifizierten Bildungsabschlüssen, ein Puffer gegen massiv geringere Löhne, Arbeitslosigkeit, gering bezahlte Teilzeit- und Niedriglohnarbeit und Altersarmut, sind in Deutschland sozial hoch selektiv. Kinder von Eltern ohne »akademischen Hintergrund« und mit »Migrationshintergrund« gehen seltener auf das Gymnasium bzw. seltener an die Uni.16
In Deutschland studieren von 100 Akademikerkindern 77, von 100 Nichtakademikerkindern nur 23, »obwohl doppelt so viele die Hochschulreife erreichen. Die finanzielle Belastung ist dabei nur einer von vielen Gründen, die diese Abiturienten von einem Studium abhalten.«17
In der Frage des höheren Bildungsabschlusses haben junge Frauen aus einem besser gestellten Elternhaus so wesentlich höhere Chancen auf eine bessere finanzielle Zukunft, auch wenn der Unterschied bei den Renten zwischen den Geschlechtern auch bei ihnen nach wie vor beträchtlich ist: »Je höher der Berufsabschluss ist, desto geringer ist der Gender Pension Gap (mit Hochschulabschluss 35,6 %, ohne Berufsabschluss 58,1 %).«18
Die Debatten um Gesetze zu Frauenquoten gehen an den Bedürfnissen der meisten Frauen vorbei. Anfang Februar 2015 wurde die gesetzliche Einführung der Frauenquote als großer Fortschritt hin zur Gleichberechtigung bejubelt. Sie gilt für 108 Unternehmen in Deutschland, in deren Aufsichtsräten bzw. Vorständen ab sofort 30 Prozent Frauen sitzen sollen. Bei der Annahme, dass die Aufsichtsräte im Schnitt etwa 15 Personen stark sind, sind bei einem Frauenanteil von 30 Prozent etwa 500 Frauen insgesamt von dieser Regelung betroffen. Das sind 0,002 Prozent bei etwa 19 Millionen weiblichen Erwerbspersonen.
Auch Gewalt gegen Frauen hat einen Klassenaspekt. Gewalt findet sich zwar in allen Gesellschaftsschichten. Die aktuelle Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Jugend und Frauen vom November 2008 (»Gewalt in Paarbeziehungen«) betont aber, dass ärmere Frauen tendenziell stärker von Gewalt in Paarbeziehungen betroffen sind. Die Autorinnen der Studie führen dies auf den verstärkten sozialen Stress in Beziehungen »in schwierigen sozialen Lagen« und verunsicherte männliche Rollenbilder zurück. Die Partner können aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit oder ihres geringen Verdiensts nicht mehr die (bei allem gesellschaftlichen Wandel immer noch eingeforderte) Ernährerrolle übernehmen. Die nur leicht geringer ausgeprägte Gewalt gegen Frauen mit höheren Einkommen führen die Autorinnen der Studie darauf zurück, dass die überlieferten Geschlechterrollen hier gebrochen werden und sich in Aggressionen der Männer gegen ihre Partnerinnen niederschlagen.
Aber: im Jahre 2013 mussten 7000 Frauen, die Zuflucht in einem autonomen Frauenhaus suchten, wieder abgewiesen werden. Nur 5000 Frauen konnten bleiben. Dies lag zum einen an zu wenigen verfügbaren Plätzen, zum anderen an einer mangelnden Finanzierung. Frauen, dies bis zu 100 Euro pro Tag nicht aufbringen können oder die keine Hartz-IV-Empfängerinnen (wie Studentinnen mit Bafög-Anspruch, Asylbewerberinnen, illegalisierte Migrantinnen) sind, haben oft nicht die Möglichkeit, im Frauenhaus zu bleiben. Durch die chronische Unterfinanzierung vieler Frauenhäuser ist auch eine psychologische Betreuung nicht durchgehend gewährleistet, für Rollstuhlfahrerinnen ist die mangelnde Barrierefreiheit in vielen Fällen ein Ausschlusskriterium. Die Basisfinanzierung der Frauenhäuser sind freiwillige Leistungen der einzelnen Länder (Ausnahme: Schleswig-Holstein, Berlin und Hamburg, hier gibt es ein Finanzierungsgesetz).19 Das Ergebnis: Ist es für viele Frauen eh schon schwer, einen Schritt aus den Gewaltbeziehungen zu machen, sind sie nun auch oft gezwungen, wieder zu ihren gewalttätigen Partnern zurückzukehren, um sich auf eine länger dauernde Suche nach Alternativen zu machen.
Ein wenig diskutierter, aber erhellender Aspekt der Folgen des Sozialabbaus ist, dass ärmere Frauen die Kontrolle über ihre Sexualität verlieren. Sie können sich wegen Geldmangel nur noch eingeschränkt Verhütungsmittel leisten. Die Kosten für Verhütungsmittel sind beispielsweise nicht in den Hartz IV-Leistungen vorgesehen. Seit der Einführung von Hartz IV berichten Mitarbeiterinnen aus Beratungsstellen, dass der Wunsch nach einem Abbruch einer Schwangerschaft steigt. Die Forderung nach Verhütungsmitteln bezahlt durch die Krankenkassen bleibt eine wichtige Forderung sozialistischer Frauenpolitik.
Die Kernfamilie
Trotz Alleinerziehenden und Regenbogen: Die Kernfamilie ist nach wie vor das Hauptmodell, das vom Staat unterstützt wird. Die heterosexuelle Kleinfamilie ist die verbreitetste, beliebteste und vom Staat ideologisch und finanziell am meisten geförderte Form des Zusammenlebens.
2011 waren knapp über ein Drittel aller Befragten der Ansicht, dass sich die Frau neben einer Teilzeitstelle überwiegend um Kinder und Haushalt kümmern sollte, während der Mann Vollzeit arbeitet. Die umgekehrte Situation können sich nur ein Prozent aller befragten Frauen wie Männer vorstellen20.
In den letzten Jahrzehnten ist dennoch die heterosexuelle Kleinfamilie als alleinige familiäre Lebensform aufgebrochen. Im Vergleich zu 1961 hat sich die Anzahl der Eheschließungen 2013 fast halbiert.21 Familien, in denen die Kinder mit einem Elternteil zusammenleben, sind an der Tagesordnung, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft ist der heterosexuellen inzwischen in vielen Aspekten gleichgestellt. Und dennoch setzt die staatliche Gesetzgebung finanzielle Anreize und erzeugt dadurch einen Druck auf die Gründung heterosexueller Familien. Letztlich bleibt dann die staatliche Gleichberechtigungspolitik reine Symbolpolitik.
Das sogenannte Ehegattensplitting verschafft einem verheirateten Paar steuerliche Vorteile, insbesondere wenn beide größere Einkommensunterschiede vorweisen und die Frau beispielsweise nur Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig ist. Die beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht, dass die Frau mit einem Minijob ohne Sozialabgaben arbeitet oder im Alleinverdienerhaushalt als klassische Hausfrau die Reproduktionsarbeit übernimmt. Das Elterngeld der schwarz-roten Bundesregierung, eingeführt durch die Familienministerin von der Leyen, war ein Gewinn für besser und gut verdienende Eltern, aber für einkommensschwache Eltern bedeutete es eine Einbuße. So wird die finanzielle Asymmetrie zwischen und die Aufteilung der Reproduktionsarbeit unter den Ehepartnern durch die Gesetzgebung zementiert.
Gleichzeitig strömten mehr und mehr gut (aus-)gebildete junge Frauen auf den Arbeitsmarkt und entschieden sich wegen mangelnder Kleinkind- und Ganztagsbetreuung häufig gegen Kinder. 57 Prozent der Frauen zwischen 25 und 40 Jahren konnten sich 2013 ein glückliches Leben ohne Kinder vorstellen.22 Laut einer Umfrage wünschen sich 57 Prozent aller Eltern im Jahr 2013 mehr Betreuungsmöglichkeiten für Schulkinder vor und nach der Schule sowie in den Ferien. Etwa die Hälfte wünscht sich mehr Krippenplätze für Kinder unter drei Jahren.23 Die Regierung steuerte 2013 mit einem Rechtsanspruch auf die Betreuung von Kindern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr nach, welcher auf breite Zustimmung von fast Dreiviertel der Bevölkerung stieß.24
Über die Hälfte der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger denken, es schade dem Kind, wenn die Mutter von unter dreijährigen Kindern Vollzeit arbeitet, nur gut ein Viertel ist der Ansicht, es schade dem Kind nicht.25 Die Einstellungen von Eltern in dieser Frage hängen nicht zuletzt von der Qualität der Krippenversorgung ab, die zumeist einen zu niedrigen Betreuer/innenschlüssel haben.
Familienministerin Schwesig will Mitte 2015 ein Elterngeld Plus an Teilzeitarbeit knüpfen und damit beide Ehepartner zur Stundenreduzierung auf 32 Wochenstunden bringen. Wenn diese 32 Wochenstunden hier mit einem vollen Lohnausgleich zur bisherigen Vollzeitarbeit einherginge, wäre eine der zentralen Forderungen seitens der Gewerkschaften und der Beschäftigten aufgegriffen worden. So wird das Gesetz wieder lediglich einem kleinen Sektor von Frauen zugute kommen. Alle Frauen, die ungewollt Teilzeit arbeiten, niedrige Löhne trotz Vollzeit oder nur Minijobs haben, werden von diesem Gesetz keinerlei Verbesserungen spüren. Die meisten im Westen mit einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 24 Stunden wünschen sich längere Arbeitszeiten, um mehr verdienen zu können.
Nicht nur die Kindererziehung, auch die Pflege älterer Menschen ist ein für die Bundesregierung drängender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktor. Zwei Drittel der momentan knapp 2,5 Millionen Pflegebedürftigen werden nicht in öffentlichen Heimen, sondern privat gepflegt. Novellen des Pflegegesetzes von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sollen die private Pflege zu Hause erleichtern und verhindern, dass Rufe nach einer massiv ansteigenden öffentlichen Versorgung mit Pflegeeinrichtungen lauter werden. Auch in diesem Modell sollen Erwerbstätige längerfristig ihre Stunden reduzieren können – wieder ohne Lohnausgleich.
Der Staat teilt die Interessen der Wirtschaft, in Krisenzeiten die Sozialausgaben möglichst zurückzufahren und die Reproduktion aus Kostengründen nicht gesellschaftlich, sondern über die Familie zu organisieren. Dort, wo Reproduktionsarbeit gesellschaftlich organisiert und staatlich angeboten wird, wie in Kitas, Krippen, Krankenhäusern, Altenpflegeheimen oder anderen Betreuungseinrichtungen, werden Mittel und Personal gekürzt, das Angebot dadurch verschlechtert und der Ruf dieser Institutionen geschädigt. Die bestmögliche Versorgung von Kindern und Alten – so die Propaganda – sei innerhalb der Familie, während die realen Verhältnisse in Pflegeheimen und Kinderkrippen in der Tat teilweise erschütternd sind. So ist scheinbar der Beweis für dieses Argument einer besseren Versorgung innerhalb der Familie gebracht.
Familienpolitik wird also zunehmend »durchökonomisiert«, d.h. der Profitlogik unterworfen, statt an den Bedürfnissen der betroffenen Menschen orientiert zu sein. Sie dient der kapitalistischen Arbeitsmarkt-, Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Finanzpolitik als Lenkungs- und Steuerungsinstrument. Die ausschlaggebenden Faktoren sind Steuerung der Geburtenraten und Verfügbarkeit von Eltern am Arbeitsmarkt – zu möglichst geringen Kosten.
Per Gesetz werden all diejenigen direkt oder indirekt benachteiligt, die vermeintlich nicht in die momentane Bedarfslage passen: alleinerziehende, Singles, Homosexuelle sowie sozial schwache Familien, also häufig Familien mit migrantischem Hintergrund. Zur Gruppe der absoluten Verliererinnen der staatlichen Gesetzgebung gehören folglich alleinerziehende Mütter und Hartz IV-Empfängerinnen.
Unterdrückung sowie herrschende Rollenzuschreibungen betreffen Frauen kollektiv, dennoch verstehen Frauen ihre Situation häufig als privates Problem und empfinden es als ihr individuelles Versagen, wenn sie den Erwartungen an sie nicht nachkommen können.
Jede Frau macht ihre eigenen, individuellen Erfahrungen mit der existierenden Frauenunterdrückung: Je nach Alter, sozialer Herkunft oder Bildungsstand erfährt sie Lohndiskriminierung, Belastung durch Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeiten, sie macht ihre individuelle Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit und in ihrer privaten Umgebung, mit (unerreichbaren) Schönheitsidealen und Rollenzwängen.
Es gibt Gegenwehr gegen all diese Aspekte, denn Frauen akzeptieren ihre Situationen nicht einfach. Dennoch geraten sie unter enormen Druck. Und der Preis, wenn sie die gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen, kann oft hoch sein: Stress, mangelndes Selbstwertgefühl, Versagensängste, Essstörungen wie Magersucht oder Fettsucht, manchmal sogar auch Selbsttötung.
Das führt in Zeiten von Krise und Neoliberalismus in der Öffentlichkeit ebenso wie im Privatleben zu einem Phänomen, das als »Selbstoptimierung« beschrieben werden kann, das aber auch widersprüchlich erlebt und ausgeübt wird. Frauen sollen heute gleichzeitig beruflich erfolgreich sein, gute Mütter sein und attraktiv erscheinen. Eine Kultur der sexuellen Verfügbarkeit prangt ihnen in der Werbung, in Film und Medien entgegen. Die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, wachsender Leistungsdruck in der Lohnarbeit und der Anspruch der ständigen Verfügbarkeit (für den Chef, Kinder, Männer, Pflegebedürftige) machen es schwieriger, die Ansprüche von Beruf und Familie und Kindern miteinander zu vereinbaren.
Frauen werden im Gegensatz zu Männern nicht einfach nach Leistung, sondern sehr häufig nach ihrem Aussehen oder ihrer Gefälligkeit bewertet. Vor Angela Merkels Amtszeit dürfte sich selten jemand für den Frisör des amtierenden Kanzlers interessiert haben, ebenso wenig für den Farbton der gewählten Kleidung.
Das zeigt sich nicht nur an den vielen Fällen, wo reiche und mächtige Geschäftsmänner oder Politiker Hotelbeschäftigte, Journalistinnen oder Kellnerinnen anzüglich angesprochen oder vergewaltigt haben – solche Übergriffigkeit von Chefs, Kollegen und Kunden sind Arbeiterinnen in diversen Branchen gut bekannt. Fast jede fünfte Frau gab bei einer repräsentativen Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bunds an, schon einmal ungewollt von Kollegen berührt worden zu sein (12 Prozent der Männer berichten ebenfalls von solchen ungewollten sexuellen Berührungen).26 Sexuelle Belästigung kommt weit häufiger vor, wird aber oft nicht als solche benannt: »Oft werden Verhaltensweisen, die vom Gesetzgeber klar als sexuelle Belästigung definiert sind, nicht als solche erkannt. Direkt danach gefragt, sagen nur 17 Prozent der befragten Frauen (und 7 Prozent der Männer) von sich, sie seien bereits am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden. Fragt man jedoch die im Gesetzestext beschriebenen Tatbestände ab (›unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten‹; ›unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen‹; ›sexuell bestimmte körperliche Berührungen‹; ›Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen‹) so geben 52 Prozent der Beschäftigten (Frauen: 49 Prozent, Männer: 56 Prozent) an, solche Belästigung bereits erlebt zu haben. Frauen erleben in deutlich höherem Ausmaß physische Belästigungen als Männer. Männer berichten eher über verbale Formen wie E-Mails sexuellen Inhalts oder zweideutige Bemerkungen. Als Urheber benennen sowohl Männer als auch Frauen am häufigsten Männer.«27
Anzügliche Bemerkungen oder »Grapschen« sind Ausdruck der Annahme, Frauen oder Mädchen seien willfährige Sexobjekte, an denen ein Mann sich bedienen könne und die es »selbst auch so wollen«. Und dabei sei die Unversehrtheit ihrer körperlichen Selbstbestimmung nicht ernst zu nehmen. Körperliche oder psychische Gewalt sind eine extreme, aber leider weit verbreitete Form des Sexismus.28
Frauen und Mädchen fühlen sich durch das im Lebens- und Arbeitsumfeld und in den Medien verbreitete Schönheitsbild enorm unter Druck gesetzt.29 Durchschnittlich verbringen Frauen doppelt so lang wie Männer mit ihrem Aussehen und geben viel mehr Geld dafür aus.30 Bei jedem dritten Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren gab es 2007 Hinweise auf eine Essstörung.31 Seit den 1980er Jahren gibt es einen Anstieg an Essstörungen, den viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durch die extrem schlanken und schlank bearbeiteten Bilder der Models in der Werbung und durch die Darstellungen von Frauen als stets liebenswert, verfügbar, dekorativ und passiv gefördert ansehen. Es sind überwiegend Frauen, die von dieser Schlankseinsdoktrin beeinflusst sind (aber auch Männer geraten durch sie zunehmend unter Druck). Essstörungen treten zehn Mal häufiger bei Frauen als bei Männern auf.32 In einer Umfrage der Uni Hannover berichten weibliche und männliche Jugendliche, »die sich gesellschaftlich als zu dick erfahren«, dass Dicksein in ihrem Umfeld mit »faul sein«, »antriebsarm« und »kontaktarm« assoziiert wird.33 Diese Entwicklung hat ihre Grundlage in der neoliberalen Ideologie eines fitten, »gesunden«, leistungsstarken Körpers, der auch als ein Hinweis für Durchsetzungsfähigkeit und hohen Arbeitseinsatz gilt.
Dieser beschriebene ideologische Druck, obwohl individuell erlebt, ist also gesellschaftlich geprägt und betrifft mehr oder weniger die meisten Frauen, die die diesen Druck aber individuell und als persönliches Problem erleben.
Es ist die Entfremdung im Kapitalismus, die dazu führt, dass menschliche Beziehungen und sexuelles Verhalten entstellt sind. Die Mehrheit der Menschen ist gezwungen, ihre Arbeitskraft auf einem unkontrollierbaren Markt zu verkaufen. Sie können nicht über die Dinge und Dienstleistungen, die sie herstellen, und die Prozesse, unter denen sie arbeiten, bestimmen. Sie sind im Alltag und im Arbeitsleben fremdbestimmt. Diese Entfremdung von sich selbst beeinflusst die Gesamtheit des menschlichen Lebens und der Erfahrungen – einschließlich der sexuellen Beziehungen. Die menschliche Sexualität ist heute in einer Reihe von tiefgehenden Widersprüchen gefangen. Sex wird in der Werbung allseitig benutzt, um Waren zu verkaufen. Sexualität selbst ist als Ware verfügbar und käuflich. Der Körper von Frauen wurde in den Mittelpunkt ihrer Fähigkeit gerückt, eine Beziehung zu Männern aufzunehmen. Dabei sind die Beziehungen zwischen Männern und Frauen weiterhin ungleich.
Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sind einige der extremsten Formen dieser entfremdeten Beziehungen. Sexualität wird, wie so vieles andere auch, zu einer Ware, die gekauft und verkauft – und sich manchmal auch »einfach genommen« werden kann.
Andererseits hat die zunehmende Unabhängigkeit von Frauen als Arbeiterinnen und Berufstätige und der Zugang zu Verhütungsmitteln ihre Erwartungen gesteigert, ihr eigenes Leben und ihren Körper kontrollieren zu können. Sie erwarten, mit Würde und Respekt behandelt zu werden. Diese Widersprüchlichkeit spiegelt sich auch in sexuellen Beziehungen wieder. Frauen können heute eher »Nein« sagen als früher, auch reichen Frauen heute häufiger die Scheidung ein als Männer. Das ist nicht zuletzt die Folge ihrer gewachsenen finanziellen Unabhängigkeit.
Ideologie
Die herrschenden Ideologien haben ihre Grundlage in den herrschenden Verhältnissen. Deshalb reicht es nicht aus, nur die Ideologien wie z.B. solche der »Weiblichkeit« und entsprechende weibliche Rollenzuteilungen zu bekämpfen, sondern die herrschenden Verhältnisse müssen umgewälzt werden. Es ist nachvollziehbar, dass viele Menschen jene Auswirkungen der Frauenunterdrückung für die Ursache dieser halten: sie verstehen den Sexismus oder sexistische Denkweisen und Haltungen als Wurzel der Frauenunterdrückung. Das führt zu diversen Theorien, wie zum Beispiel, dass Männer biologisch programmiert (»testesterongesteuert«) sind, dominant über Frauen zu sein. Das hieße wiederum, dass man ja nichts ändern kann.
Andere Theorien gehen davon aus, dass die Ursache der Frauenunterdrückung in dem Bewusstsein, dem Zivilisations- oder Bildungsniveau liegt, sie bewegen sich auf idealistischer Ebene. Wenn Männer und Frauen nur anders über Frauen denken würden, hätten wir kein Sexismus – so die Überlegungen. Denkweisen und Bewusstsein müssen geändert werden, aber das kann nicht ohne gleichzeitige Veränderung der realen Verhältnisse geschehen. Menschen ändern ihre Ideen meistens, wenn sie beginnen, die Welt zu ändern, in der sie leben. Sozialisierung von Menschen ist kein rein ideologischer Prozess, sondern hat seine Wurzeln in der Art und Weise, wie eine Gesellschaft organisiert ist.34
Es gibt Gegenwehr und damit die Möglichkeit, auf mehreren Ebenen die herrschende Frauenunterdrückung zu bekämpfen
Im letzten Jahrzehnt hat es auch in Deutschland Ansätze zu einer neuen antikapitalistischen Frauenbewegung gegeben. Sie melden sich zu Wort gegen Rassismus, gegen Austeritätspolitik, gegen sexuelle Gewalt, sie verteidigen einmal erkämpfte Freiräume gegen Versuche konservativer und reaktionärer Politiker und Parteien, die Uhr der Frauenemanzipation zurückzudrehen. Sie kritisieren die offiziellen Sprecherinnen des alten Feminismus der 1970er Jahre, die sich im Namen von Frauenrechten teilweise zu Fürsprecherinnen von Rassismus und Krieg gemacht haben. Und sie sehen den krassen Widerspruch von in Grundgesetz und Gleichstellungsgesetzen versprochenen gleichen Rechten und realer Unterdrückung von Migrantinnen, von Flüchtlingen, von prekär beschäftigten Frauen.
Zugleich hat es in den letzten Jahren vermehrt Widerstand gegen die soziale Diskriminierung von Frauen gegeben. Mit der Rückkehr von ökonomischen Krisen und dem politischen Triumphzug neoliberaler Politik ist ein neues weibliches Dienstleistungsproletariat entstanden, das sich zu regen beginnt. Zahlreiche kleinere und sehr weibliche Streiks und Proteste richteten sich gegen grenzenlose Ausbeutung und zunehmend unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse. Neuere Tarifauseinandersetzungen wie beispielsweise 2014 die um den Flächentarifvertrag im Einzelhandel oder 2013 gegen die Schleckerpleite waren im Kern Auseinandersetzungen für den Erhalt von fast ausschließlich weiblich besetzen Arbeitsplätzen oder gegen eine weitere Lohnabsenkung in einem von Frauen dominierten Erwerbsfeld wie dem Einzelhandel.
Über solche Kämpfe lässt sich die Klassenauseinandersetzung auf ökonomischer Ebene gegen Niedriglöhne und Ausbeutung führen, gleichzeitig stärken solche Kämpfe das Selbstbewusstsein von Frauen und tragen so dazu bei, dass sexistischer Herabsetzung des weiblichen Geschlechts ein Stück weit der Nährboden entzogen wird. Auch Ideen über vermeintlich nicht so durchsetzungsfähige und »friedfertige« Frauen werden gesamtgesellschaftlich in Frage gestellt, wenn Frauen kämpferisch Demonstrationen oder Streiks anführen.
Noch während dieser Artikel geschrieben wird, steht der größte bundesweite Streik im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste an. Die Auseinandersetzungen um die Aufwertung von Sozial- und Erziehungsdiensten mit der Forderung nach durchschnittlich zehn Prozent höheren Löhnen und besseren Betreuungsschlüsseln zwischen Erzieherinnen bzw. Erziehern und Kindern oder die Kämpfe um höhere Löhne und bessere Betreuungsschlüssel an Krankenhäusern und in der Pflege sind ebenfalls beste Beispiele für Kämpfe für eine direkte ökonomische Verbesserung der Stellung von überwiegend Frauen, die in diesen Berufen tätig sind (bei den Erzieherinnen und Erziehern sind es zum Beispiel 94 Prozent Frauen). Die andere Dimension dieser Auseinandersetzungen ist der damit verbundene Kampf für qualitativ hochwertige Kinderbetreuungs- und Pflegeangebote der öffentlichen Hand – also die vergesellschaftete Reproduktionsarbeit und dadurch eine echte Wahlfreiheit für all diejenigen Frauen, die gerne mehr Stunden oder Vollzeit arbeiten würden, aber durch die momentan herrschenden Zustände an Haus und Herd gefesselt sind.
Kämpfe gegen den »Abtreibungsparagraphen« §218, der per Gesetz Frauen zu Unmündigen macht und ihnen die freie Entscheidung über ihren Körper raubt, bleiben nach wie vor aktuell und wichtige Auseinandersetzungen für die Gleichstellung von Frauen und gegen die soziale Kontrolle, die der Staat über alle Menschen damit ausüben will. Seit einigen Jahren erleben wir verstärkt Angriffe seitens christlich-fundamentalistischer und rechter Gruppen, den §218 sogar wieder zu verschärfen. Eine breite gesellschaftliche Bewegung zur Verteidigung der Rechte zur sexuellen Selbstbestimmung von Frauen ist notwendig, um diese Angriffe abzuwehren und weiter für die vollständige Abschaffung des §218 zu kämpfen.
Homosexuelle, die dem christlich-konservativen Ehe- und Familienbild nie entsprechen werden, sind regelmäßig homophoben Angriffen ausgesetzt und nach wie vor gesetzlich benachteiligt. Diesen Angriffen zu begegnen, ist ebenfalls ein Baustein im Kampf gegen Unterdrückung im Kapitalismus, indem dessen Ideologie und heterosexuelle Normen in Frage gestellt werden.
Frauen sind sicherlich durch ihre verstärkte Teilhabe am Arbeitsmarkt und durch ihren ständig steigenden durchschnittlichen Bildungsstand heute viel weniger bereit, sich mit der Herabsetzung ihres Geschlechts, sei es durch sexistische Sprüche oder durch Gewaltanwendung, abzufinden. Dies zeigt aber auch, dass nur über eine vollständige und gleiche Beteiligung der Frauen an der bezahlten Erwerbsarbeit ein Weg zur Emanzipation eröffnet wird. Zu beobachten sind die daraus folgenden verdichteten sozialen Bewegungen auf diesen Themenfeldern. Beispielhaft sind die sogenannten Slutwalks (»Schlampendemos«), mit denen verurteilt wurde, dass die Schuld für Vergewaltigungen vermeintlich bei Frauen und deren aufreizender Kleidung läge. Oder aber Demonstrationen gegen Gewalt gegen Mädchen und Frauen wie One Billion Rising, oder andere Initiativen gegen Sexismus in der Werbung.
Es bleibt festzuhalten, dass die verschiedenen Kämpfe gegen alle Ebenen der Frauenunterdrückung an den Grundpfeilern des neoliberalen kapitalistischen Systems – sei es ökonomisch oder ideologisch – ansetzen und erste Schritte für die Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft werden können. An der über 8000 Menschen starken Demonstration zum internationalen Frauentag am 8. März in Berlin waren die einzelnen Kämpfe abgebildet und fanden dort einen gemeinsamen, kämpferischen Ausdruck. Die Überwindung des Kapitalismus kann nur im gemeinsamen Klassenkampf von Frauen und Männern erreicht werden. Deshalb müssen sich Frauen und Männer auch gemeinsam organisieren, in den Gewerkschaften und in sozialistischen Parteien.
Fußnoten:
1Spiegel-Interview, DER SPIEGEL, 2007/27.
2Statistisches Bundesamt, Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt – Deutschland und Europa, 2012, S. 6.
3http://www.sozialticker.com/berufliches-spektrum-von-frauenund-maennern-wenig-veraendert_20140507.html, Zugriff am: 28.04.2015.
4http://www.brigitte.de/producing/pdf/fads/BRIGITTE-Dossier-2013.pdf, Zugriff am: 25.04.2015.
5Helma Lutz, Professorin für Frauen und Geschlechterforschung in Frankfurt, wird von der Frankfurter Rundschau zitiert: »Ernüchternd sei vor allem, dass auch Paare die eine sehr egalitäre Vorstellung von familiärer Arbeitsteilung haben mit dem ersten Kind oft in klassische Rollenmodell zurückfielen« FR, 20.11.2014.
6http://www.zeit.de/karriere/2014-08/bezahlte-unbezahlte-arbeit-frauen, Zugriff am: 25.04.2015.
7Vgl. DeStatis, Geburten in Deutschland, Wiesbaden 2007.
8http://de.statista.com/statistik/daten/studie/298310/umfrage/praevalenz-von-sexueller-belaestigung-unter-frauen-in-mitgliedsstaaten-der-eu/, Zugriff am: 10.04.2015.
9http://fra.europa.eu/de/press-release/2014/gewalt-gegen-frauen-sie-passiert-taglich-und-allen-kontexten, Zugriff am: 29.04.2015.
10http://de.statista.com/statistik/daten/studie/298321/umfrage/gewalterfahrungen-in-der-kinderheit-unter-frauen-nach-eu-mitgliedsstaten/, Zugriff am: 29.04.2015.
11Franziska Walter, Schlaf ist Luxus, Berliner Zeitung, 05.03.2010.
12Im April 2015 deutete sich an, dass das Bundesverfassungsgericht massive Einwände gegen das Betreuungsgeld hat und es möglicherweise in einigen Monaten durch ein Urteil wieder abgeschafft werden könnte.
13Statistisches Bundesamt, Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt – Deutschland und Europa, 2012, S. 36.
14 Susanne Wanger: Viele Frauen würden gerne länger arbeiten, IAB-Kurzbericht 09/2011, S. 4
15Franziska Walter, Schlaf ist Luxus, Berliner Zeitung, 05.03.2010.
16Bundeszentrale für politische Bildung, Datenreport 2013, Bonn 2013, S. 78.
17http://www.arbeiterkind.de/index.php?id=6, Zugriff am: 29.04.2015.
18BMFSFJ, Gender Pension Gap, 2011, S. 8.
19Vgl. Mangelwirtschaft mit Gewaltopfern, in: taz, 26.11.2014 und Leid für die Leidenden, in: taz, 16.3.2014.
20Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 10064, November 2011.
21700.000 Eheschließungen in 1961 und 374.000 in 2013; vgl. http://de.statista.com/themen/96/hochzeit/, Zugriff am: 27.04.2015.
22http://www.presseportal.de/pm/7202/2921102/exklusiv-umfrage-in-der-aktuellen-petra-57-prozent-der-frauen-k-nnen-sich-ein-gl-ckliches-leben, Zugriff am: 27.04.2015.
23»Einstellungen der Bevölkerung zur Familienpolitik und zur Familie«, Monitor Familienleben, 2013, Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des BMFSFJ.
2473% ; »Einstellungen der Bevölkerung zur Familienpolitik und zur Familie«, Monitor Familienleben, 2013, Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des BMFSFJ.
25http://www.presseportal.de/pm/7202/2921102/exklusiv-umfrage-in-der-aktuellen-petra-57-prozent-der-frauen-k-nnen-sich-ein-gl-ckliches-leben, Zugriff am: 27.04.2015.
26 Jeder zweite Beschäftigte ist betroffen, vgl. taz vom 03.03.2015.
27Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Umfrage zum Auftakt des Themenjahres »Gleiches Recht. Jedes Geschlecht«, http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015_/Auftakt_Themenahr_2015.html?nn=4191866, Zugriff am: 03.03.2015.
28Siehe These 1
29Eine repräsentative Umfrage des Gesundheitsmagazins Apotheken Umschau, durchgeführt von der GfK Marktforschung Nürnberg, ab 14 Jahren, Apotheken Umschau, 10.07.2014.
30http://madonna.oe24.at/beauty/Frauen-55-Minuten-pro-Tag-fuers-Aussehen/133927468, Zugriff am: 25.04.2015.
31http://www.bzga-essstoerungen.de/fileadmin/user_upload/medien/PDFs/Hoelling_Essstoerungen.pdf, Zugriff am: 25.04.2015.
32http://www.welt.de/gesundheit/article10942867/Magersucht-und-Bulimie-koennen-auch-Maenner-treffen.html, Zugriff am: 25.04.2015.
33http://www.ish.uni-hannover.de/fileadmin/soziologie/pdf/allgemein/leibinz-uni-hannover_studie_dicksein_RZ.pdf , Zugriff am: 25.04.2015.
34Siehe den Artikel von Rhonda Koch und Oskar Stolz in dieser Ausgabe.
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Schlagwörter: Feminismus, Frauen, Frauentag, Gleichstellung, Unterdrückung